Eine Lüge kann man nur dort platzieren, wo Vertrauen herrscht, sagt der Hamburger Psychologieprofessor Philipp Gerlach. Im Interview spricht er über den Fall Gil Ofarim, die Elastizität von Wahrheit – und die strittige Frage nach dem Weihnachtsmann.
PsychologieWann Menschen lügen – und wann sie gestehen
Warum lügen Menschen? Und wie hält man es aus, über eine längere Zeit öffentlich eine unwahre Behauptung zu wiederholen – wie jüngst der Sänger Gil Ofarim? Philipp Gerlach ist Professor für Allgemeine und Sozialpsychologie an der privaten Hochschule Fresenius in Hamburg. Er erklärt, wann Menschen lügen – und wann sie gestehen.
Herr Gerlach, seit biblischen Zeiten verurteilt der Mensch das Lügen. Warum tun wir es trotzdem andauernd?
Philipp Gerlach: Die Lüge ist unter anderem eine Versuchung, die es einem kurzfristig ermöglicht, Ziele zu erreichen, wenn sie geglaubt wird. Langfristig riskiert man aber, seine Reputation als ehrlicher Mensch zu verlieren. Aber, nun ja, einer Versuchung kann man halt auch erliegen.
Lügen wir eigentlich täglich? Wenn ja, wie oft?
Das hängt ganz von der Definition einer Lüge ab. Stellen Sie sich vor, jemand fragt, warum Sie zu spät kommen. Sie sagen, der Zug sei ausgefallen, und das mag vielleicht auch so stimmen. Doch das eigentliche Problem war, dass Sie zu spät losgegangen sind und deswegen den Zug davor schon nicht mehr bekommen haben. Haben Sie in diesem Fall gelogen?
Was würden Sie sagen?
Ich würde sagen, Sie hätten hier zumindest nicht die Unwahrheit gesagt, aber die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt gelegt, der weniger zentral war. Sie haben quasi „die Wahrheit gedehnt“, aber nicht im engeren Sinne gelogen. Sie merken, es ist kompliziert mit den Lügen.
Manchmal ist die Lüge ein Instrument, das man taktisch einsetzt. In anderen Fällen beginnt man jedoch, selbst seine eigenen Lügen zu glauben. Wann geschieht dies?
Vor allem, wenn man eine Lüge häufiger wiederholt und sie zu den anderen Überzeugungen passt, die man hat. So funktioniert unser Gedächtnis nun mal: Auf Basis von Bruchstücken rekonstruieren wir aktiv, was geschehen ist. Und der Vorgang des Erinnerns kann das Erinnerte verändern. Wenn ich zum Beispiel begeistert erzähle, was für einen großen Fisch ich letztens gefangen habe, dann kann es sein, dass er in meinen Berichten jedes Mal ein wenig größer wird – und dann auch in meinen Erinnerungen immer weiterwächst.
Zwei Jahre lang hat der Sänger Gil Ofarim vor Gericht und in den Medien eine Geschichte erzählt, über die er nun zugab, sie sei eine Lüge. Was kann einen Menschen dazu bewegen, über einen so langen Zeitraum eine Unwahrheit zu vertreten?
Ich habe den Fall nur aus der Distanz beobachtet. Aber es ist nun mal so, dass eine Lüge auffliegen kann, aber nicht muss. Es ist also riskant zu lügen. Vermutlich hat Herr Ofarim auch nicht damit gerechnet, dass der Fall eines Tages vor Gericht landet. Man kann ja mit dem Lügen auch durchkommen. Und wer weiß, in wie vielen Hunderten, gar Tausenden von anderen Fällen etwas Ähnliches vorgefallen ist, was die Gerichte dann als Nichtigkeit bewertet haben, anstatt es zu verhandeln. Diese Fälle sieht man halt nicht, sie haben es nicht in die Presse geschafft.
Die Psychologie der Lüge ist das eine, etwas anderes jene des Geständnisses. Was muss geschehen, damit ein Lügner seine Lüge öffentlich eingesteht?
Die Motive für eine Lüge sind sehr verschieden. Sie reichen beispielsweise von persönlicher Bereicherung bis zum Schutz anderer Personen. Genauso zahlreich sind die Motive dafür, eine Lüge einzugestehen. Vielleicht hat sich die Situation verändert? Oder der Nutzen der Lüge steht in keinem Verhältnis mehr dazu, dass man seine Reputation weiter aufs Spiel setzt? Manchmal will man auch nur noch mit einer Situation abschließen.
In einem wissenschaftlichen Artikel sprechen Sie von „versteckten Dimensionen“ des Lügens, die bei seiner Untersuchung entscheidend seien. Welche sind das?
Der Artikel ist ein Kommentar zur Art, wie Lügen in Forschungsstudien gemessen werden. Eine Dimension, die dabei unterschiedlich gemessen wird, ist, was wir Elastizität („elasticity“) nennen. Einige Studien zwingen Teilnehmer dazu, zwischen Wahrheit und Unwahrheit, also quasi Schwarz und Weiß, zu unterscheiden.
Andere Studien erlauben gewissermaßen Zwischenbereiche, quasi „fifty shades of grey“, wie ich mit dem Beispiel der Zugverspätung schon angedeutet habe. Eine andere Dimension besteht in der Zurückführbarkeit („traceability“) einer Lüge auf ein Individuum. Dies kann, muss aber nicht in einer Situation vorliegen.
Wir lügen weniger, wenn wir persönlich dafür haftbar gemacht werden können?
Ja, es scheint so. Lügen wir als Teil einer Gruppe und kann meine individuelle Aussage im Nachhinein nicht auf die eigene Person zurückgeführt werden, scheinen wir eher dazu bereit, eine Lüge zu platzieren. Es gibt aber noch mehr Dimensionen. Zum Beispiel scheint es einen Unterschied zu machen, ob wir über unsere Leistungen lügen oder über das Glück, das wir hatten.
Wie meinen Sie das?
Wir könnten zum Beispiel über unsere Noten im Zeugnis lügen, das wäre eine Lüge über unsere Leistung. In der Forschung wird solche Leistung oft simuliert, indem Teilnehmer schwierige Aufgaben lösen. Danach sollen sie angeben, wie viele der Aufgaben sie korrekt gelöst haben. Indem man die Angaben mit den tatsächlichen Ergebnissen vergleicht, kann man das Lügen messen. In derartigen Studien wird tendenziell weniger gelogen als in Studien, in denen Teilnehmer die Augenzahl eines Würfelwurfes berichten.
Eine weitere Dimension erwähnen Sie in dem Artikel noch.
Dabei handelt es sich um die Wiederholung („repetition“). Es scheint einen Unterschied zu machen, wie oft wir die Möglichkeit haben, die Unwahrheit sagen. Ein Lehrer könnte zum Beispiel jeden Tag danach fragen, ob jemand die Hausarbeiten gemacht hat, oder nur einmal, am Ende der Woche, ob alle Hausarbeiten gemacht wurden.
Ebenso unterscheiden sich wiederholte Gelegenheiten der Lügen, wie zum Beispiel bei der Steuerhinterziehung, die jedes Jahr stattfinden kann. Andere Gelegenheiten sind eher selten, wie bei der Fälligkeit von Erbschaftssteuern.
Das Verhältnis von Lüge und Wahrhaftigkeit halten Sie für ein Spektrum gradueller Abstufungen. Für den Philosophen Immanuel Kant dagegen ist die Lüge „der faule Fleck in der menschlichen Natur“, immer und überall moralisch verwerflich. Hat diese strenge Ablehnung der Lüge als ethisches Ideal oder Prinzip nicht doch auch ihr Recht?
Ich bin kein Moralphilosoph, aber es gibt ein Szenario, das gerne gegen Kant angefügt wird. Stellen Sie sich vor, Sie leben zur Zeit des Dritten Reichs. Die Gestapo klopft an Ihre Tür und fragt Sie, ob Sie eine jüdische Familie verstecken – die gerade wirklich verborgen in Ihrem Keller lebt. Ich glaube, wir sind uns einig, dass eine Lüge hier angebracht wäre.
Das Beispiel stammt von Kant selbst. Bei ihm ist es ein Mörder, der an Ihre Tür klopft und fragt, ob Ihr Freund, der gerade zu Ihnen geflohen ist, zu Hause ist. Selbst dann sei die Lüge falsch, sagt er.
Da haben Sie Ihren Kant besser gelesen als ich. Mir scheint, mit der Meinung dürfte Kant aber relativ alleine dastehen. Die meisten Menschen wägen doch hier vermutlich ab und beziehen auch die direkten Folgen der Lüge mit ein. Aber ich verstehe natürlich Kant auch: Die Lüge kann nur dort platziert werden, wo Vertrauen herrscht. Und mit einer Lüge bricht man ja genau dieses Vertrauen. Ob dies gegenüber der Gestapo gerechtfertigt wäre, sei aber mal dahingestellt.
Ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis besteht im Idealfall zwischen Eltern und ihren Kindern. Nun steht bald Heiligabend vor der Tür: Sollten wir unseren Kindern erzählen, dass der Weihnachtsmann existiert, obwohl wir es doch eigentlich besser wissen?
Hier gibt es kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Die einen sind rückblickend vielleicht dankbar für eine schöne Kindheitserinnerung, auch wenn sie später erfuhren, dass ihre Eltern sie angelogen haben. Die anderen sehen in dieser Erzählung wohl Prinzipien verletzt, die wir doch eigentlich mit Recht hochhalten.
Wie haben Sie es denn mit Ihren Kindern gehalten?
Wir haben darüber nachgedacht und uns am Ende dafür entschieden, vom Weihnachtsmann zu sprechen. Obwohl ich doch eigentlich jemand bin, der aus Prinzip nicht lügt. (lacht) Denn eigentlich macht Lügen das Leben ja nur unnötig kompliziert.
Was geht denn eigentlich in der kindlichen Psyche vor, wenn Kinder erfahren, dass ihre Eltern über den Weihnachtsmann gelogen haben? Erschüttert dies ihr Urvertrauen oder schärft es ihre Urteilskraft?
Das weiß ich leider so genau auch nicht. Vielleicht kann es auch eine Art Training sein, dass man nicht alles glauben sollte, was einem erzählt wird. Es hängt vermutlich auch davon ab, auf welchem Weg die Kinder von der Wahrheit erfahren. In den meisten Fällen hören sie wohl auf dem Schulhof oder von älteren Geschwistern davon. Ich glaube, bei meinem Sohn ist es derzeit so: Er weiß eigentlich schon, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, und gleichzeitig hat er die Hoffnung, dass es ihn vielleicht doch gibt. (lacht)
Ganz graduell wird der Weihnachtsmann zu einer Lüge, noch ist er eine Dehnung der kindlichen Wahrheit?
Man kann sich dem Weihnachtsmann schwer entziehen. Er ist eine gewisse Institution in unserer Gesellschaft, eine kollektive Vorstellung – so wie wir alle glauben, dass der Euro einen Wert hat. Hören wir auf, an diese Narrative zu glauben, verschwinden sie auch. Glauben wir zum Beispiel nicht mehr an den Wert des Euros, wird dieser auch nichts mehr wert sein.
Entscheidend ist beim Weihnachtsmann vielleicht auch etwas anderes: Wir neigen eher dazu, jemandem eine Lüge zu verzeihen, wenn diese nicht zur eigenen Bereicherung diente. Und da der Weihnachtsmann Geschenke verteilt, anstatt sie einzukassieren, dürften wir mit unseren nicht ganz wahrheitsgetreuen Aussagen über seine Existenz nochmal davonkommen. Ich hoffe zumindest, meine Kinder werden es bei mir eines Tages so sehen. (lacht)
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