In keiner anderen deutschen Metropole sind die Hotels so gut ausgelastet. Wie schafft die Stadt es, trotz des Booms bei sich zu bleiben?
Reich und sexyWarum plötzlich alle Touristen nach Hamburg wollen
Die blonde Frau in dem engen goldenen Kleid hatte dem Publikum die „Kunst der Entblätterung“ versprochen, sie hatte angekündigt, dass sie alle zu „Nylon- und Fußfetischisten“ werden würden – und ja, elegant ausziehen würde sie sich auch.
Zum Star des Abends stieg aber unverhofft Kamil aus Nürnberg auf, als er sich am Ende der Show einen roten BH um die behaarte Brust spannen ließ. Bevor er der spontanen Einladung auf die Bühne folgte, saß er mit fünf Freunden auf einer weißen Couch der Bar Bunny Burlesque. Die gehört zum St.-Pauli-Kosmos von Drag- und Hamburg-Ikone Olivia Jones. Auf ihren T-Shirts steht die Warnung „JGA“ samt Bild des Bräutigams, ein Junggesellenabschied, wie es sie zu Dutzenden gibt an den Wochenenden auf dem Kiez. Als die Tänzerin im Goldkleid zunächst fragte, wer denn hier „stolzer Touri“ sei, gingen fast alle Hände nach oben.
In Hamburg regnet es Tourismusrekorde
Der Junggesellenabschied, wie auch die Gäste aus dem Saarland oder Gelsenkirchen, tragen dazu bei, dass Hamburg im ersten Halbjahr 7,6 Millionen Übernachtungen verzeichnete – 5,7 Prozent mehr als im Vor-Corona-Rekordjahr 2019. Die Herbergen sind mit einer Quote von 73,5 Prozent so gut ausgelastet wie nirgendwo sonst in Deutschland. Im Schnitt lassen die Gäste einen Umsatz von rund 95 Euro pro Nacht da; auch damit liegt die Hansestadt an der Spitze.
In Hamburg regnet es seit Jahren Tourismusrekorde. Zwischen Alster und Elbe tummeln sich neben deutschen Gästen vor allem Besucher aus der Schweiz, Dänemark, Österreich und Großbritannien. Sie bleiben im Schnitt 2,2 Tage; manche von ihnen zieht es immer wieder her. Wie schafft Hamburg es seit Jahren, für Touristen attraktiv zu bleiben? Was haben die Stadt und ihre Bewohner besser gemacht als andere?
Eine Erkundung vom 19. Stock der Elbphilharmonie bis zur Baustelle des nächsten Wahrzeichens. Wer in der Hochsaison 4100 Euro pro Nacht zahlt, bekommt das älteste Erfolgsgeheimnis Hamburgs durch meterhohe Glasfenster geradezu aufgezwungen. In der 160 Quadratmeter großen Owner Suite des Westin-Hotels in der Elbphilharmonie erwacht man mit Blick auf Hafen und Elbe zur Rechten, links erstreckt sich die Hafen-City, das Stadtviertel am Wasser.
Internationales Renommee
Madeleine Marx, die Hoteldirektorin, zeigt elf Stockwerke tiefer auf die Hafenindustrie gegenüber der Aussichtsplattform. „Die Gäste geben mehr Geld aus, wenn sie darauf gucken.“ Was Marx’ Gäste fasziniert, ist für Hamburger seit Jahrhunderten Normalität: ein Hafen mitten in der Stadt. Dicke Pötte, Schiffstuten. Andere Städte lagern die Containerkräne lieber aus, die Abgase, den Lärm. Hafen, das habe eigentlich etwas Schmuddeliges, sagt Marx. „Wir haben den Hafen in Schick.“ Für die Elbphilharmonie konnte es deshalb keinen anderen Standort geben.
Die Stadt schuf sich 2017 nicht nur einen Konzertsaal von Weltrang, sondern ein architektonisches Ausrufezeichen. Perfekt platziert auf einem alten Kaispeicher, in dem früher Kakao- und Kaffeesäcke lagerten, mit deren Handel Hamburg reich wurde. Die „Elphi“ brachte der Stadt internationales Renommee, Artikel in der „New York Times“, ein pittoreskes Instagram-Fotomotiv. Dass die Baukosten um das Zehnfache auf rund 800 Millionen Euro stiegen, gehört heute zum Mythos dazu. Wie oft gelingt schon etwas derart Tollkühnes, dass eine Metropole sich auf Anhieb ein neues Wahrzeichen schafft?
17 Jahre vor dem ersten Konzert in der Elbphilharmonie und bevor die Hafen-City aus dem Boden spross, bastelten zwei Zwillingsbrüder in einem anderen, nur 500 Meter entfernten Hafenspeicher an einem Weltrekord: der größten Modelleisenbahn der Welt. Mit 500 Zügen und 7000 Waggons schufen die Gebrüder Braun das Miniaturwunderland. Und damit eine Attraktion, die 23 Jahre später schon fünfmal zu Deutschlands beliebtester Sehenswürdigkeit gewählt worden ist. 1,4 Millionen Besucher vergucken sich jedes Jahr in Modelllandschaften durch die auch noch Züge fahren.
Die Geschichte der Brauns steht sinnbildlich für die Chance, sich in der Stadt zu verwirklichen, wenn man Herzblut und das richtige Konzept mitbringt. Um die Jahrtausendwende war die Speicherstadt – heute Unesco-Kulturerbe – noch Freihafengebiet, durch deren Fleete kaum Touristen aus China oder Spanien zogen. Die Hamburger Sparkasse gewährte den Brauns trotzdem einen Kredit von zwei Millionen Mark. Heute hat das Wunderland wegen des Ansturms teils bis ein Uhr nachts geöffnet.
Ein anderes Beispiel ist das Chocoversum im Kontorhausviertel. Nach einem Crashkurs zu Herstellung und Geschichte der Schokolade kreieren Besucher hier ihre eigene Tafel. Chefin Stephanie Schaub erwartet bereits jetzt „das beste Jahr, was wir je hatten“. Auch dank des Schietwetters im Sommer, nieselig und grau. Schaub, 38, stammt aus der bayerischen Provinz. In Hamburg, sagt sie, habe der Tourismus als Wirtschaftsfaktor ein sehr starkes Gewicht. Als ihr etwa auffiel, dass sie – obwohl ein kulinarisches Museum – 19 Prozent Mehrwertsteuer auf die Tickets zahlten, sei sie in der Hamburger Verwaltung mit einem Anruf an die richtige Ansprechperson verwiesen worden. Die Steuer zahlen sie seit 2017 nicht mehr. Die „Nahbarkeit“ der Behörden sei beeindruckend, sagt Schaub.
Der Hamburger Senat, aktuell rot-grün, unterstützt die Branche seit jeher und bekommt dafür nicht nur besondere Attraktionen wie das Wunderland oder das Chocoversum. 2019, dem letzten normalen Jahr vor der Pandemie, gaben Besucherinnen und Besucher in der Stadt rund 9,6 Milliarden Euro aus. Insgesamt trug der Tourismus so fast 5 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung Hamburgs bei.
Und auch die Wirtschaft selbst hilft mit. Thomas Krüger, Professor für Stadtplanung an der Hafen-City-Universität, nennt die Unterstützung der „Kaufmannschaft“ für Deutschland einzigartig. In der Innenstadt finanzieren Händler etwa Straßenbäume, öffentliche Kunst, Bänke oder goldene Lettern über den Läden.
Stadt der Stiftungen
Hamburg zählt zudem bundesweit die meisten Stiftungen (knapp 1500), allein in die Elbphilharmonie steckten die drei größten privaten Spender 50 Millionen Euro. Die Mäzeninnen und Unternehmer – Neider nennen sie Pfeffersäcke – wiederum wüssten, dass die Attraktivität der Stadt „den eigenen Kassen und dem Vermögen“ nicht schade, sagt Krüger. Das bürgerliche Engagement strahle somit auf die Stadtentwicklung aus.
Vom Anleger Landungsbrücken bringen Fähren Touristen zu den Musicaltheatern am anderen Ufer. Der Broadway in New York, das Westend in London, der Hafen in Hamburg, so lautet die internationale Rangfolge. Mit dem Aufstieg der Musicals seit den 1980er-Jahren begann auch Hamburgs Aufstieg an die Tourismusspitze.
Früher waren es Busladungen aus dem Sauerland, die 30 Prozent der Gäste ausmachten. Heute liegt der Busreisenanteil bei unter 4 Prozent. Die Produktionsfirma Stage Entertainment bekommt regelmäßig Anfragen aus anderen Städten, aus Dresden etwa oder aus Leipzig. Sie träumen von den bis zu zwei Millionen Hamburger Musicalgästen im Jahr. Doch so einfach ist die Gleichung nicht – zwei der vier Spielstätten liegen direkt am Hafen, den Panoramablick auf die Elphi gibt es von hier aus gratis, dazu das Großstadtflair und die Nähe zum Zentrum; das gibt es so nur in Hamburg.
Pathos gehört dazu
Im Marketing der Stadt spart man deshalb nicht mit Pathos. Einer der Architekten des Erfolgs, der Chef der Tourismusagentur, Michael Otremba, nennt Hamburg einen „Sehnsuchtsort“, der ein Gefühl von „Freiheit und Inspiration“ vermittele. Ankermotive, Schmuddelwetter, Waterkant, Hamburg, meine Perle – markenpsychologisch erscheint Hamburg manchmal wie eine Stadt aus Klischees. Dabei wirkt es an manchen Tagen so, als habe der Hafen längst eine größere touristische als wirtschaftliche Bedeutung. Für die größten Containerschiffe der Welt ist die Elbe inzwischen zu verschlickt und zu flach.
Auch die Reeperbahn ist nicht mehr jene gefährliche Meile auf der Karate-Tommy oder andere Luden sich um die Bordelle prügelten. Der SPD-Wahlkreisabgeordnete beklagt eine „Verkioskisierung“, also immer mehr Getränkeshops, die all die Junggesellentrupps bedienen. Im Sommer sorgt fast jedes Wochenende ein anderes Großevent für Sperrungen, ob Schlagermove, Triathlon oder die bei vielen verhassten Harley Days.
Stadtentwicklung geht weiter
Doch solange der Tourismus auch die Stadtentwicklung ankurbelt, für schöne Parks, schicke Biorestaurants und Festivals sorgt, will kaum einer etwas von Overtourism wissen. Die internationalen Germany-Dirndl-Liebhaber reisen nach München, das junge Partyvolk ravt in Berliner Clubs, Geschäftsleute flanieren zwischen Frankfurts Büroglastürmen. Nur etwa ein Fünftel der Hamburg-Gäste kommt aus dem Ausland. Dagegen reist das Ehepaar aus Castrop-Rauxel zum Hochzeitstag gern für ein Wochenende in die „schönste Stadt der Welt“, besucht ein Musical und fühlt sich in der Burlesque-Show ein bisschen verrucht. Hamburg ist eine Stadt, in der man mal gepflegt ausbrechen, die Kordeln am Spitzen-BH kreiseln lassen kann. Und in der ständig daran gearbeitet wird, den Auswärtigen etwas Visionäres zu bieten.
Wie zum Beispiel dieses neuste Großprojekt in der Hafen-City, um deren Finanzierung es jahrelang Streit gab. Es soll ein Leuchtturm der Stadt werden, rund 250 Meter hoch, Hamburg-Rekord. Wird er genügend Menschen anziehen, die Kirchturm-Skyline um den Michel nicht verderben? Manche sprechen von einem Selbstläufer, andere fürchten ein Millionengrab – Diskussionen wie seinerzeit bei der Elbphilharmonie.
Der Elbtower, ein Glasturm mit Büro-, Hotel- und Gewerbeflächen, wird gleich zweieinhalbmal so groß werden. Im Moment steht der Rohbau bei rund 60 Metern. Bisher veranschlagt der private Investor und österreichische Multimilliardär René Benko Kosten von 700 Millionen Euro; das ist schon jetzt fast Elphi-Niveau. Für den Tourismusstandort Hamburg wird sich die Investition sicher auszahlen.
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