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Sicherheit vor OlympiaDie Sorgen der Pariser Straßenbuchhändler

Lesezeit 6 Minuten
France, Paris, Eiffel Tower, bridge andLantern

France, Paris, Eiffel Tower, bridge andLantern; Bouqiniste an der Seine in Paris

Touristen und Einheimische lieben die mehr als 200 mobilen Buchhändler an den Uferstraßen von Paris. Während der Olympischen Sommerspiele sollen sie weichen – aus Sicherheitsgründen. Doch die Bouquinisten wehren sich.

Stefan Zweigs „Schachnovelle“ steht neben der deutschen Übersetzung des Romans „Die Pest“ von Albert Camus. Ein gebrauchter Band der „Märchen der Brüder Grimm“ hat seinen Platz an der Seite einer Sammelausgabe von Heinrich Heines Werken. Dazwischen sticht eine gelbe, gerahmte Karte heraus mit der Aufschrift: „Lesen gefährdet die Dummheit!“.

Es ist ein augenzwinkernder Hinweis für alle Flaneure an den Quais von Paris, die Deutsch verstehen und sich für deutsche Kultur interessieren. Sie will Iris Mönch-Hahn anziehen mit ihren liebevoll dekorierten Bücherkisten, die an den Mauern der oberen Uferstraßen angebracht sind und in denen sich vor allem Klassiker der deutschen und französischen Literatur befinden. Mönch-Hahn selbst hat sich an einem kleinen Stuhl mit Tischchen eingerichtet, von dem sie aufspringt, sobald sie merkt, dass ein Kunde zögert und Beratung braucht. Eine Decke für die kalten Tage, die sie komplett im Freien verbringt, liegt bereit.

Nur von warmen Worten lebt es sich nicht so gut.
Iris Mönch-Hahn, deutsche Bouquinistin

Seit Juni ist die Deutsche, die im bayerischen Straubing geboren wurde und in Regensburg aufwuchs, Bouquinistin. Meist von Donnerstag bis Sonntag – auch abhängig vom Wetter – ist ihr Buchstand gegenüber der Adresse 17 Quai Voltaire geöffnet. Beworben hat sie sich dafür bei der Stadt Paris, weil nach der Corona-Pandemie Plätze frei geworden waren.

Die Bezeichnung der Händler leitet sich von „bouquin“ ab, einem alten, umgangssprachlichen Ausdruck für Buch. Mit ihren charakteristischen Kisten gehören die 226 Straßenbuchhändler zum Bild der französischen Hauptstadt. Die Tradition besteht seit mehr als 450 Jahren, geschaffen von Händlern, die ihre Ware ursprünglich in großen Körben um den Hals anboten. Mit der Zeit und dem Aufkommen von feststehenden Buchläden, die die Konkurrenz fürchteten, gab es immer mehr Regeln, an die sich die Bouquinisten zu halten hatten – und die sie zugleich schützten.

Seit dem Jahr 1900 müssen die Kisten jeweils in „waggongrüner“ Farbe gestrichen sein mit einer Maximalhöhe von 2,10 Metern, um die Sicht auf den Fluss nicht gänzlich zu versperren. Während der Verkauf von Antiquitäten und Gemälden neben Büchern erlaubt ist, werden Souvenirs nur geduldet: Offiziell dürfen sie höchstens ein Viertel der verkauften Ware ausmachen, also eine von vier Kisten. Die Seine-Ufer wurden bereits 1991 in die Weltkulturerbe-Liste der Unesco aufgenommen. Ein gesonderter Antrag der Bouquinisten bei der Unesco läuft gerade.

Sie wolle allerdings nicht nur nettes Dekor sein, stellt die resolute Mönch-Hahn klar. „Mein Business ist der Verkauf von Büchern, früher in einem Laden, jetzt unter freiem Himmel und mit Blick auf die Seine“, sagt sie. Souvenirschnickschnack gebe es bei ihr daher nicht, „das würde ich im Geschäft ja auch nicht verkaufen wollen.“ Innen hat sie ihre Kisten mit goldener Farbe angestrichen, die sich auch in der deutschen Fahne wiederfinde – und zugleich auf der Kuppel eines prachtvollen Stadtpalais in unmittelbarer Nähe. „Es ist, als spiegele sich die goldene Farbe wider.“

Mit Catherine Deneuve geplaudert

Die Buchverkäuferin muss die Stimme heben, um gegen die Geräusche der Autos, Roller und Polizeisirenen anzukommen. Ihr Standort, der ihr vom Rathaus zugeteilt wurde, befindet sich unweit des Musée d’Orsay. Auf der anderen Seite des Flusses sieht Mönch-Hahn den Louvre. Ihr Verhältnis zu Paris, das sei eine „Hassliebe“, sagt sie. Einerseits der stetige Lärm oder auch die Tatsache, dass man aufgrund der heruntergekommenen Rohrleitungen „bei jeder Wohnung den Wasserschaden quasi schon mit anmietet“. Andererseits das Flair, die Kultur überall, die unbestreitbare Offenheit einer pulsierenden Weltstadt. Einmal, so erzählt die Buchverkäuferin, traf sie spätabends beim Ausführen ihres Jack Russell Terriers namens Rousseau im Viertel Saint-Germain-des-Prés auf Catherine Deneuve, ebenfalls eine Hundebesitzerin auf Gassitour, und plauderte ein wenig mit der berühmten Schauspielerin.

Traditioneller Buchstand an der Seine

Bouquinisten an der Seine: Paris erwartet Millionen Besucherinnen und Besucher im Sommer. Die traditionellen mobilen Buchläden sollen aus Sicherheitsgründen weichen.

Anders als viele andere Bouquinisten, die oft Autodidakten sind, kommt Mönch-Hahn aus dem Buchhandel und leitete mehrere Geschäfte, zunächst in Deutschland. Seit 2005 lebt sie in Paris, wo sie von 2015 bis 2020 Inhaberin des letzten verbliebenen deutschen Buchladens war. Zu dessen Schließung entschied sie sich schweren Herzens aufgrund der „Gelbwesten“-Proteste und anhaltenden Bahnstreiks, die ihr zweimal hintereinander das fürs Überleben so wichtige Weihnachtsgeschäft verhagelten, wie sie erzählt.

Als nächsten Schritt wagte sie die Bewerbung für einen Platz als Bouquinistin, ganz bewusst für das Jahr 2023, um noch ausreichend Erfahrungen vor den Olympischen Sommerspielen 2024 zu sammeln. Dann erwartet Frankreichs Hauptstadt Millionen Besucherinnen und Besucher. Die Eröffnungsfeier und einige der Wettkämpfe finden direkt auf der Seine statt. Hunderttausende werden sich dann an den Ufern drängen. „Ich ging davon aus, dass mir dann meine Kisten leer gekauft werden“, sagt Mönch-Hahn. Denn viele derjenigen, die bei ihr kaufen, kommen von weither, aus Brasilien oder Argentinien, und nutzen die Gelegenheit, bei ihr gebrauchte deutsche Bücher zu erstehen, an die sie zu Hause kaum gelangen. Wirtschaftlich gesehen sei das Bouquinisten-Dasein generell ein schwieriges Geschäft. An manchen Tagen verkaufe sie trotz der Menschenmassen, die sich täglich an ihrem Stand vorbeischieben, kein einziges Buch – an anderen sei es wieder besser. Umso mehr setzte sie auf das sportliche Großereignis im Juli und August.

Inzwischen erscheint jedoch ungewiss, ob die Straßenbuchhändler während der Spiele bleiben dürfen. Die Polizeipräfektur will ihre Kisten abbauen lassen mit der Begründung, sie stellten ein Sicherheitsrisiko dar. Das sei sicher zutreffend, sagt Mönch-Hahn – vor allem aber scheuten die Organisatoren, zusätzliches Personal für die Absicherung bereitzustellen. Um die Folgen für die Betroffenen abzufedern, bot ihnen das Rathaus die Übernahme der Kosten des Ab- und Anbaus der Buchkisten an, auf Wunsch auch deren Renovierung. Mönch-Hahn ist skeptisch: „Weder ist klar, wie lange wir weichen sollen, ob mehrere Wochen oder gar mehrere Monate, noch ob die empfindlichen alten Kisten die Operation heil überstehen würden.“ Sie selbst, die ihr Material gebraucht von einem Händler auf der anderen Seite des Rathauses gekauft hatte, konnte diese nur dank einer aufwendigen und kostspieligen Operation an Ort und Stelle bringen und dort anbringen. Insgesamt habe das vier Wochen in Anspruch genommen.

Derzeit läuft eine Onlinepetition für den Verbleib der Straßenbuchhändler während der Olympischen Spiele, die inzwischen mehr als 700.000 Menschen unterschrieben haben. Auch mehrere Intellektuelle, darunter Schriftsteller, Historiker und Philosophen, haben einen entsprechenden Aufruf veröffentlicht. Und die renommierte Académie française sprach sich ebenfalls für deren Verbleib oder zumindest finanzielle Entschädigungen aus. „Eine Ehre“, sagt Iris Mönch-Hahn.

Aber wer sie und ihre Kolleginnen wirklich unterstützen wolle, könne auch einfach vorbeikommen und ihnen Bücher abkaufen. „Nur von warmen Worten lebt es sich nicht so gut.“ Ausgestanden ist der Streit noch nicht. Doch die Bouquinistin, gestählt von so manchem Pariser Wasserschaden, blickt ihm gelassen entgegen.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.