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UkraineWenn der Magier das Kriegsende vorhersagt

Lesezeit 5 Minuten
Illustration: Ein Pendel

Die Astrologie boomt in Kriegs- und Krisenzeiten.

Astrologie boomt, und ukrainische Wahrsager haben bereits Prophezeiungen aufgestellt, wann und woran Russlands Machthaber Wladimir Putin sterben wird. Diese Vorhersagen sind kein neues Phänomen, sondern in einigen Regionen der Ukraine tief verwurzelt.

Ukrainische Hellseherin sagt voraus, wie und wann Putin und Prigoschin sterben.“ So lautete der Titel eines Videoausschnitts aus einer ukrainischen Fernsehsendung, in der die Magierin Maria Tykha Anfang des Jahres Tarotkarten legte. „Prigoschins Fuchskarte ist am Fallen, sein Tod wird etwas mit der Luft zu tun haben“, sagte sie – und acht Monate später starb der Chef der russischen Wagner-Söldner bei einem Flugzeugabsturz. Manche sehen darin den Beweis, dass sich Tykhas Prophezeiung erfüllt hat.

Ein Einzelfall ist solche Hellseherei im Fernsehen nicht. „Zukunftsvorhersagen und andere astrologische Artikel sind überhaupt keine Seltenheit, und es gibt sie selbst in angesehenen ukrainischen Medien“, sagt der ukrainische Schriftsteller und Psychoanalytiker Jurko Prochasko. „In der ukrainischen Gesellschaft ist Astrologie stärker verwurzelt als in der deutschen.“

Es ist ein kleines Spiel. Ein Spiel inmitten von Hoffnungslosigkeit und Grauen.
Jurko Prochasko,ukrainischer Autor und Psychoanalytiker

„Wir alle sehnen uns sehr danach, dass dieser Krieg ein Ende nimmt“, sagt der 53-Jährige. Und ob Astrologe, Magier oder Wundertäter: Immer laufe es in den ukrainischen Medien auf ihre Prognose hinaus, wann der Krieg enden wird. Glaubt man dem einen oder anderen Astrologen, wären die Kämpfe längst vorbei. „Russland wird im März und April 2023 eine völlige Niederlage erleiden, und im Juni wird die Krim vielleicht bereits unter ukrainischer Kontrolle stehen“, war sich ein Astrologe sicher. Heute wissen wir, dass er falsch lag.

Mitunter nimmt die Deutung von Kriegshandlungen besonders bizarre Gestalt an: Dass die Russen Anfang des Jahres 36 Luftangriffe flogen und dabei 33 Drohnen einsetzten, sei kein Zufall. „Putin setzt bereits auf Okkultismus“, heißt es. Er sei für seinen Krieg auf Kräfte aus dem Jenseits angewiesen.

Glaubt das wirklich jemand? Laut Prochasko unterscheiden die meisten Menschen in der Ukraine klar zwischen seriösen Texten und solchen astrologischen Artikeln, die nur der Unterhaltung dienen. „Selbst viele Menschen, die regelmäßig astrologische Prognosen lesen, nehmen die Inhalte nicht sehr ernst“, sagt er. „Es ist ein kleines Spiel. Ein Spiel inmitten von Hoffnungslosigkeit und Grauen.“

Die Astrologie boomt in Kriegs- und Krisenzeiten. Auf Instagram haben Accounts mit Tageshoroskopen Zehntausende Follower, in einer Netflix-Show deutet eine Weissagerin Prominenten die Zukunft, und Astro-Influencer erklären in kurzen Videos, was der Tag bringt. In Zeiten von Unsicherheiten in einer als immer komplexer empfundenen Welt sind einfache Antworten beliebt.

Gegen die Unvorhersehbarkeit des Lebens

„Gerade in der Situation dieses schrecklichen Krieges fühlen sich viele Menschen schwach, machtlos und ausgeliefert“, sagt Psychoanalytiker Prochasko. Die Astrologie gebe einem die Illusion, man könne mit den Prophezeiungen eine Ordnung in das Chaos bringen. Die Prognosen spendeten den Menschen in der Ukraine Trost. „Sigmund Freud würde von einem Lustgewinn sprechen, bei dem die eigene Machtlosigkeit angesichts des Krieges verdrängt wird“, so Prochasko. Man sei nicht mehr dem Chaos, den Gefahren der Welt und der Unvorhersehbarkeit des Lebens ausgeliefert, sondern könne alles erklären – „wenn auch mit so einem skurrilen System“. Das beruhige den einen oder anderen zumindest vorübergehend.

Die Hoffnung auf übernatürliche Kräfte und Orientierung stiftende Prophezeiungen sind kein neues Phänomen, sondern in Teilen der Ukraine tief verwurzelt. In den Karpaten, deren Gebirgskette sich bis in den Westen der Ukraine erstreckt, sind die Molfaren zu Hause. Ihnen werden magische Kräfte zugeschrieben. „Molfar wird man nicht, als Molfar wird man geboren“, sagt die Molfarin Magdalena Motschiowski einem Reporter der Deutschen Welle.

„Der Molfar ist eine lokale Ausprägung in der Kultur der Huzulen, einem Bergvolk in den Karpaten“, erklärt Prochasko. Anderswo nenne man sie Hellseher, Hexen oder Zauberer. Früher seien sie ein kleines, lokales Phänomen gewesen. „Doch durch die modernen Medien kennt heute jeder in der Ukraine die Bezeichnung Molfar und weiß, was das ist.“ Wie bei vielen neuen Phänomenen hoffen manche auf ein Wunder, wenn sie sich von einem Molfar die Zukunft vorhersagen lassen, sagt er.

Ein Pendel, Kräuter und ein stumpfes Messer – mehr benötigt Motschiowski zum Heilen und Wahrsagen nicht. Mit Orakelknochen vom Kapartenhasen könne sie auch die Zukunft vorhersagen. 2012 soll der Molfaren-Altmeister den Krieg gegen die Ukraine vorhergesagt haben und dann getötet worden sein, erzählt Motschiowski. „Er kannte die Zukunft der Ukraine und sprach mehrmals von einem Krieg, der bald ausbricht.“ Als Russland zwei Jahre später in die Ukraine einmarschierte, sprachen die Molfaren Schutzformeln. Geholfen hat dies offenbar nicht.

Auch Politikerinnen und Politiker aus Kiew kommen immer wieder in die Karpaten, um sich von Molfaren die Zukunft vorhersagen zu lassen, sagt Prochasko. „Ein Teil der ukrainischen Politiker ist sehr offen für magisches Denken und Vorhersagen.“ Die Abgeordneten würden schließlich die ukrainische Gesellschaft widerspiegeln und in der Hoffnung auf Rat und Prophezeiungen in die Berge reisen.

Heidnische Traditionen haben in vielen Gegenden der Ukraine einen festen Platz. Traditionell wird der Iwan-Kupala-Tag – das Fest der Sommersonnenwende, in der Ukraine in der Nacht vom 6. auf den 7. Juli – gefeiert. Benannt ist es nach der heidnischen Gottheit Kupala. „Die wichtigsten heidnischen Rituale existieren bis heute“, schreibt die ukrainische Botschaft in Berlin über das Fest und führt unter anderem rituelle Taufen und das Verbrennen von Strohpuppen an. Das wichtigste Ritual an diesem Tag sei aber die „Reinigung“ durch Feuer, bei der junge Paare über ein Lagerfeuer springen und dadurch ein Leben lang zusammen bleiben sollen.

Prophezeiungen fallen auf fruchtbaren Boden

„Diese heidnischen Traditionen stehen nicht im Widerspruch zur orthodox und katholisch geprägten Ukraine“, erklärt Prochasko. Das Christentum habe viele heidnische Elemente übernommen, sodass beide Einflüsse miteinander harmonisierten. „Christliches und Heidnisches ergänzen sich wunderbar.“

Sven Christian Schulz

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Die immer neuen Prophezeiungen der Astrologen fallen also auf einen fruchtbaren Boden, auch wenn ihre Vorhersagen oft nicht eintreffen. Deutsche Hellseher haben übrigens auch Nachholbedarf bei ihren Prognosen: Dass im vergangenen Jahr ein Krieg in der Ukraine beginnen werde, stand in Deutschland offenbar nicht in den Sternen. In der Auswertung der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften heißt es: „Der Astrologe Wulfing von Rohr hatte in seiner Jahresvorschau einen Krieg ‚mit beziehungsweise gegen Russland‘ definitiv ausgeschlossen.“ (RND)


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.