In Kopenhagens autonomer Gemeinde eskaliert der Konflikt zwischen den Gangs um die Vorherrschaft über den Cannabismarkt. Der dänische Staat will jetzt durchgreifen. Und die Christianiter? Sehen nur eine Lösung.
Gemeinde Christiana in KopenhagenDrogenstreit eskaliert: Ende eines Hippietraums?
Der Politigard, das Kopenhagener Polizeihauptquartier, ist ein prächtiges Beispiel dafür, wie einschüchternd Architektur sein kann. Diese schweren Mauern, dieser kreisrunde Innenhof: 44 Meter Durchmesser, die imposante Fassade stemmt sich in 88 paarweise angeordnete dorische Säulen – und dann ist da noch diese vier Meter hohe Bronzestatue, „Slangedræberen“, der Schlangentöter. Wer die Macht des Staates demonstrieren, wer die Schlange um den Hals dieses Staates töten will, findet hier eine würdige Kulisse.
Es ist Dienstagnachmittag der vergangenen Woche, als Mette Frederiksen, Dänemarks sozialdemokratische Ministerpräsidentin, flankiert von ihren Ressortchefs für Justiz, Wirtschaft und Kultur, mit ernster Miene auf die wartende dänische Presse zuschreitet, den Blick des Schlangentöters im Rücken. „Wir müssen ihnen“, sagt Frederiksen, „das Leben so schwer wie möglich machen.“ Sie, das sind die kriminellen Gangs, deren ausufernde Gewalt das kleine skandinavische Land gerade verunsichert. Frederiksen und ihre Kabinettskollegen sind gekommen, um ein neues Maßnahmenbündel zu präsentieren, ein Bandenpaket, bereits das vierte dieser Art. „Wer terrorisiert, wird keinen Frieden finden“, sagt Justizminister Peter Hummelgaard. „Die Polizei wird euch im Nacken sitzen.“
Strafmaß verschärfen
Der dänische Staat tut also mal wieder das, was er in den vergangenen Jahren immer getan hat, wenn die bisherigen Mittel nicht ausreichten: Er verschärft das Strafmaß. Das Tragen von Waffen soll jetzt noch härter geahndet werden, Straftäter schneller im Gefängnis landen – obgleich die Haftanstalten in Dänemark aus allen Nähten platzen. Der Staat will die Befugnisse der Ordnungsmacht ausweiten, der Polizei das Abhören von Verdächtigen ermöglichen, zivile Agenten und Agentinnen einsetzen, die Bandenrekrutierung von Kindern unter Strafe stellen.
Ob es aber wirkt? Über dem Innenhof des Polizeihauptquartiers ziehen sich dunkle Wolken zusammen, Frederiksen schaut in skeptischer Vorahnung nach oben. Dann regnet es.
Ein paar Stunden vorher, zwei Kilometer weiter östlich, jenseits der Inneren Hafenbrücke, vorbei an der Erlöserkirche, die man aus Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde kennt, dann rechts ab zum Mittelpunkt des Problems. Hier ist Christiania, die „Freistadt“, ein Staat im Staate auf 34 Hektar, seit mehr als einem halben Jahrhundert ein Sozialexperiment, eine basisdemokratische Kommune mit eigenen Gesetzen. Von Hippies, Künstlern, Aussteigern und Anarchisten auf dem Gelände einer alten, leer stehenden Kaserne gegründet, von der Regierung seither geduldet. Christiania ist bunt, liberal, einzigartig. Christiania ist tödlich.
„Das, was wir befürchtet hatten, ist eingetreten – wieder“, ließ die Gemeinschaft der Christianiter am Abend des 27. August verlautbaren. Einen Tag zuvor, es war ein Samstag, war ein 30-Jähriger bei einer Schießerei getötet worden, er verlor sein Leben in der berüchtigten Pusher Street, der Drogengasse von Christiania, vier weitere Menschen wurden verletzt. Maskiert seien die Täter gewesen, heißt es. Das Opfer komme aus dem Rockermilieu, heißt es. Und: Die Schüsse trafen auch Unbeteiligte, Touristen. „Das hier kann nicht weitergehen. Das darf nicht weitergehen. Das sollte nicht noch mehr Leben zerstören.“ Die Pusher Street soll geschlossen werden.
Jetzt ist der Staat dran
Jetzt ist der Staat dran, Frederiksen ist dran, ihr Justizminister. Aber versprechen, das wird bei der Vorstellung ihres Bandenpakets deutlich, können sie nichts. Hummelgaard äußert sich denn auch zurückhaltend, als die Frage fällt, ob denn nicht in einem Jahr in der Pusher Street sowieso alles wie immer sei, mit den Ständen der Dealer, die hier Marihuana und Haschisch verkaufen, mit der latenten Bedrohung, dem Bandenkrieg um den Drogenmarkt, der hier dann und wann eskaliert, Kugeln fliegen lässt. „Alles, was ich und die Regierung tun“, sagt Hummelgaard, „sollte hoffentlich dazu führen, dass Sie es nicht erleben.“
Am Dienstagmorgen ist alles so, wie es nicht länger sein soll. Der illegale und bislang nur halbherzig verfolgte Drogenverkauf geht weiter, das Leben geht weiter, auch wenn hier doch gerade erst eines ausgelöscht worden ist. Der Mann, sagt man sich, war Probemitglied der „Hells Angels“, des berüchtigten Rockerclubs. Ihr ärgster Widersacher: die dänische Straßenbande „Loyal to Familia“. Die Pusher Street, sie ist das Schlachtfeld um die Vorherrschaft über den Rauschgifthandel.
Der süßliche Geruch nach Gras
2005 wurde ein 26-Jähriger erschossen, 2009 detonierte eine Handgranate und verletzte mehrere Menschen schwer, 2016 flogen Schüsse bei der versuchten Festnahme eines Dealers. 2021 und 2022 gab es jeweils einen Toten zu beklagen, erneut durch Schüsse. Und nun also das nächste Todesopfer. Dass es in der Pusher Street trotzdem weiter süßlich-stechend nach Gras riecht, dass an einem Dutzend improvisierter Verschläge feilgeboten wird, ist vor dem Hintergrund der jüngsten Tragödie grotesk. Aber es ist die Realität, eine seltsam normale dazu.
Drei junge Frauen, unsicher kichernd, kaufen an diesem schwülen Kopenhagener Vormittag ein paar Gramm, ziehen davon.
Am Eingang zur Pusher Street, in der das Fotografieren im gewaltsam erzwungenen Verlust des Smartphones enden kann, hat sich eine deutsche Schulklasse zu einer Traube zusammengezogen, man lauscht dem Vortrag einiger Mitschülerinnen über die Geschichte Christianias. Um die tausend Menschen leben hier, referieren sie, alte Verteidigungsanlage, Baracken, zusammengezimmerte Hütten, eigene Regeln, der Staat liebäugelt über die Jahre mit Räumung, 2011 der Kauf des Grundstücks durch die Christianiter. Der Lehrer blickt zufrieden, alles Wichtige wurde genannt. Währenddessen huscht ein Tross finnischer Rentner vorbei. „Joker“, ihr Tourguide, hat sie gerade durch das Viertel geführt, natürlich auch durch die Pusher Street.
„Joker“ ist 58 und heißt eigentlich Lars Fenger, hager, wildbärtig, der Kopf von einem Filzhut bedeckt. Fenger ist, wie man abgegriffenerweise so sagt, ein Original. Eines, das besorgt ist um den Ruf seines Zuhauses. Um die Zukunft von Christiania, wenn das hier so weitergehen sollte. „Ich habe nicht wirklich ein Problem damit, wenn sich die Mitglieder der Rockerbanden gegenseitig erschießen“, sagt er, „aber mein Herz blutet, wenn ich an die Unschuldigen denke, die es trifft.“ Dass es so weit kommen musste, sagt er, sei natürlich auch dem Staat anzulasten, der das Spielfeld den bösen Buben überlässt. „Als ich mit 13 anfing, Gras zu rauchen, dachte ich, dass der Kram bald legalisiert wird. Das ist aber bis heute nicht der Fall. Und da unten kämpfen die Banden um einen Milliarden-Kronen-Markt.“ Fenger guckt besorgt. „Das, was hier ausgetragen wird, ist definitiv keine gute PR für Christiania.“
Geblieben aus Liebe
Lars Fenger kam einst als überzeugter Sozialist an diesen Ort, Ende der Achtziger war das, schon damals war ihm Christiania eigentlich zu weit von den Idealen von 1971 entrückt. „Das war ein kapitalistisches Drecksloch“, sagt er. Er wollte weg. Aber er blieb, wegen dieses Mädchens, das er liebte und für das er hergezogen war. Es ist 2023, Fenger ist immer noch da. Und auch der alte Geist von Christiania hat es – bei aller Bürgerlichkeit seiner Einwohnerinnen und Einwohner, von denen viele außerhalb des Viertels arbeiten, Steuern zahlen – dann doch irgendwie rübergeschafft in die neue Zeit. „Wir versuchen, die Weisheit der Hippiebewegung am Leben zu erhalten, Liebe, Frieden, Verständigung“, sagt Fenger. „Die Kids hier mögen keine Hippies mehr sein, sie sind Punks, Skater, Rastafari, Technofreaks oder was auch immer. Aber sie erhalten die Idee aufrecht, dass Gewalt ein sehr schlechtes Mittel der Konfliktlösung ist.“
Keine Gewalt, das ist einer der Grundsätze der Gemeinschaft, ebenso sind Waffen verboten, harte Drogen. Das mit den vermeintlich weichen Drogen aber, das hat man hier schon immer eher lax gehandhabt. Das C in Christiania, es steht gewissermaßen für Cannabis, bis Anfang des Jahrtausends war Handel damit in der Hand der eigenen Bürger, erst die striktere Politik unter Anders Fogh Rasmussen sorgte dafür, dass die Christianiter den offenen Verkauf von Haschisch nach und nach einstellten. Mit der Folge, dass der Markt den Banden in die Hände fiel.
Eine Weile konnten sich damit alle einigermaßen arrangieren, und politisch opportun war es ja auch: Wenn die Dealer sich hier sammeln, sind die anderen Viertel Kopenhagens sauber. Was blüht, wenn die Pusher Street als Gravitationszentrum des Haschischs ausfällt, sah man nach der Schießerei 2016. Die Christianiter, die sich dem, was sich da in ihrer kleinen Utopie tat, zunehmend hilflos ausgesetzt wähnten, schritten selbst zur Tat, rissen die illegalen Verkaufsstände ab. Die Händler machten sich in der Folge in den umliegenden Bezirken breit. Zum Ärger der Menschen, die dort leben. Irgendwann kehrten sie zurück in die Pusher Street, und es war Ruhe.
Fauler Schwebezustand
Aber dieser faule Schwebezustand im rechtlichen Dauergrau scheint an ein Ende gekommen zu sein. Die Politik hat genug, die Bandengewalt wird immer schlimmer, auch aus anderen Landesteilen wird jetzt regelmäßig von Straftaten berichtet. Christiania hat genug, schon Anfang August, Wochen vor der jüngsten Bluttat, blockierten die Anwohner die Pusher Street mit Barrieren, wuchteten einen Container vor den Eingang. „Die organisierte Kriminalität“, hieß es zu der Aktion, „saugt die Energie aus all den positiven Dingen, die wir in Christiania gerne wollen.“ Schon kurz darauf aber fielen die Barrikaden wieder. Und dann die Schüsse.
Jetzt ist die Schlange fällig. Die Pusher Street ist fällig, Staat und „Freistadt“ sind sich da in seltener Eintracht einig. Nur beim Wie gehen die Meinungen klar auseinander. Die Regierung setzt auf Härte, um den Banden die Geschäfte zu nehmen. Und die Christianiter? Auf das, was sie schon immer fordern: die Legalisierung von Cannabis. „Wir sehen das“, sagt Lars Fenger, der freundliche Sozialistenschrat, „als einzige friedliche Lösung des Problems.“ Am 30. September werden sie vor Schloss Christiansborg ziehen, vor den Parlamentssitz, um für die Freigabe zu demonstrieren. (RND)
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