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Cornelia Funke„Der Zweite Weltkrieg hat Spuren in Herr der Ringe hinterlassen“

Lesezeit 8 Minuten
Cornelia Funke

Jugendbuchautorin Cornelia Funke

  1. Cornelia Funke ist eine der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen.
  2. Im Interview spricht sie über ihre kommenden Werke und erklärt, warum Menschen so fasziniert von Fantasy sind.
  3. Und sie erklärt, warum die Harry-Potter-Bücher so wichtig für die Literatur und ideal für die Erziehung von Kindern sind.

Frau Funke, haben Sie einen Adventskalender?

Dieses Jahr habe ich sogar einen ganz besonderen Adventskalender. Ich lade regelmäßig Künstler hierher auf meine Farm ein – gerade ist eine Marionettenbauerin aus Leipzig da. Sie hat mir einen wunderbaren Adventskalender gebastelt – hinter jedem Kläppchen finde ich eine klitzekleine Illustration von ihr.

Hat man in den USA, wo Sie leben, denn eigentlich Adventskalender?

Seit einigen Jahren gibt es diese Tradition auch hier. Und zwar Adventskalender in allen Formen – mit Bildern, mit Schokolade, oder mit kleinen Kästchen. Ich selbst habe mir zwei Adventshäuser aus Holz gekauft. Die haben allerdings 25 Kästchen – denn Weihnachten wird hier ja erst am 25. Dezember gefeiert.

In Ihrer Weihnachtsgeschichte „Hinter verzauberten Fenstern“ brechen Sie eine Lanze für den Bilder-Adventskalender. Warum?

Als Kind hatte ich immer Bilder-Kalender und die liebte ich sehr. Ich bin aus meiner Kindheit so an sie gewöhnt, an diese Aufregung, das Kläppchen zu öffnen und dann ein Bild dahinter finden. Mich verzaubert das heute noch.

In dieser Weihnachtsgeschichte geht es um Julia, die in den Adventskalender hineingehen und die Figuren dort besuchen kann. Auch in Ihren Büchern „Tintenherz“, in der Spiegelwelt und bei den Drachenreitern vermischen Sie die reale mit der magischen Welt. Warum haben Sie sich für dieses Konzept entschieden?

Ich habe einfach ein anderes Konzept von Realität. Ich finde unsere Welt so fantastisch, diesen Planeten, auf dem wir leben, der um einen riesigen Feuerball kreist – wenn man sich das nur mal überlegt! Ich habe das Gefühl, dieser Wirklichkeit näher zu kommen, wenn ich fantastisch erzähle.

Sie könnten aber auch einen reinen Fantasy-Kosmos erschaffen, wie einige andere Fantasy-Autoren das tun.

Das habe ich ja auch schon getan, aber bei mir gibt es meistens eine Tür in unsere Wirklichkeit. Ich glaube fest daran, dass alle Fantasy, selbst wenn sie von fernen Planeten erzählt oder von einer Welt, die vollkommen abgetrennt ist von der unseren, doch letztlich nur ein Spiegelbild unserer Wirklichkeit ist. Ich glaube, je wirklicher fantastische Welten sind, desto mehr faszinieren sie uns.

Tolkien hat einmal gesagt, in „Herr der Ringe“ gehe es nur um den Tod. Er hat das Buch geschrieben als jemand, der selbst in den Gräben des Ersten Weltkriegs gewesen war – und das merkt man: Die Geschichte um Frodo und Sam ist die eines britischen Offiziers und seines einfachen Soldaten. Auch der Zweite Weltkrieg hat Spuren in „Herr der Ringe“ hinterlassen: Das Gefühl, dass eine Dunkelheit über die Welt kommt, die man besiegen muss, wurde gefüttert von der historischen Wirklichkeit dieser Zeit. Alle mächtige Fantasy spiegelt die Wirklichkeit des Autors. Wer heute schreibt, wird nicht umhin kommen, die Klimakatastrophe und den zunehmenden Rassismus zu spiegeln.

Zur Person

Cornelia Funke (61) stammt aus Dorsten, lebte lange in Hamburg und heute in Malibu, Kalifornien. Sie hat zwei Kinder. Über ihr Studium der Buchillustration kam sie zum Schreiben. Gerade ist bei Dressler „Palast aus Glas – Eine Reise durch die Spiegelwelt“ erschienen.

Wie kommen Sie denn auf die Ideen für diese magischen Welten?

Alle magischen Welten schlummern in unserer Wirklichkeit. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mit meinen Kindern spazieren ging: Mein Sohn liebte es, sich vorzustellen, dass er so klein wie ein Käfer ist. Jeder Stock war ein großes Hindernis, jeder kleine Bach ein dramatischer Fluss. Diese Art die Welt zu sehen, ist mir nie abhandengekommen. Das ist für mich die Quelle aller Welten, über die ich erzähle. Viele behaupten ja, Fantasy sei Flucht. Tolkien hat dazu gesagt: Wer hat etwas gegen Flucht – außer dem Gefängniswärter. Wenn uns die Fantasy Kraft gibt, unserer Wirklichkeit neu zu begegnen, dann ist das eine sehr gute Sache.

So ging es mir, als ich mit Anfang 20 „Die Tribute von Panem“ gelesen habe – ich habe auf einmal erkannt, wie glücklich ich mich schätzen kann, in einer Demokratie zu leben.

Genau! Wenn Fantasy diese Wirkung hat, wenn wir zurückkommen aus dieser anderen Welt und die Wirklichkeit um uns plötzlich schärfer sehen, dann haben wir Autoren unsere Arbeit gut gemacht. Wir haben dem Leser ein Abenteuer gegeben, eine Reise in eine andere Welt, aber auch etwas, das er wieder mit zurücknehmen konnte, etwas, das ihn für die Wirklichkeit stärker macht.

Sie schreiben aber nicht nur Fantasy, sondern auch realistische Kinderbücher wie „Hände weg von Mississippi“ oder die Reihe um „Die wilden Hühner“. Was ist schwieriger: realistisch oder fantastisch?

Also ich recherchiere viel mehr für Fantasy-Bücher. Natürlich kommt es auch auf das Werk an – wenn ich ein realistisches Buch über die Drogenkultur in Los Angeles schreiben würde, müsste ich viel recherchieren, weil ich darüber nicht viel weiß. Aber für „Die wilden Hühner“ brauchte ich gar keine Recherche. Ich habe einfach meinen Alltag und meine Kindheitserinnerungen genutzt. Die Bücher habe ich unheimlich schnell geschrieben. Der neue „Reckless“-Band hingegen spielt in Japan, dazu habe ich etwa ein halbes Jahr über das Land recherchiert. Oft lese ich 30 oder 40 Bücher, um mich auf die Geschichte vorzubereiten. Joanne K. Rowling soll ja sieben Jahre über mittelalterliche Zauberei und Aberglauben recherchiert haben, und die fantastischen Elemente, die sie benutzt, sind fest verwurzelt in der Realität. Überhaupt finde ich: Je intensiver Autoren in der Wirklichkeit recherchiert haben, desto mächtiger wird die Fantasy.

Auch, wenn es aufwändiger ist – der Großteil Ihrer Werke ist fantastisch. Das scheint Sie also mehr zu reizen.

Ja, weil ich mehr Möglichkeiten habe. Ich liebe es, mich verwandeln zu können. Kinder können sich ohne Mühe vorstellen, ein Hund zu sein. Erwachsene haben Angst davor, weil sie sich so gerne einreden, sie wüssten, wer sie sind. Ich liebe an der Fantasy, dass ich sagen kann: So, jetzt bin ich ein Hund. Ich arbeite mit einem Genre, in dem ich die großen Fragen stelle: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Mir hat mal ein indisches Mädchen gesagt, „Drachenreiter“ sei das Lieblingsbuch ihrer Kindheit. Das ist nur möglich, weil das eine fantastische Geschichte ist, die nicht explizit die indische oder die deutsche Realität ausdrückt, sondern in der es um die menschliche Existenz geht. Fantasy kann sehr international und zeitlos sein.

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Klaus Kordon sagte kürzlich in einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur, durch Harry Potter werde das Interesse an ernsthafter Jugendliteratur immer geringer, und man solle Kindern mehr zumuten. Was würden Sie ihm entgegnen?

Oh Gott (lacht). Da bin ich ganz anderer Meinung. Harry Potter geht mit ganz großen Themen um: Da geht es um Rassismus, Nationalismus, Folter und Tod, um Mobbing, Armut, Reichtum und Gerechtigkeit. Mit diesen sehr ernsthaften Themen müssen Kinder sich auseinandersetzen. Generell glaube ich, dass es falsch ist, von einem Entweder-Oder zu sprechen. Bei einem sehr guten und einprägsamen Buch ist es dem Leser egal, ob es fantastisches oder realistisches Erzählen ist. Wir sind alle Geschichtenerzähler – und tun das auf die eine oder andere Weise.

Wie hat Harry Potter die Fantasy-Literatur verändert?

Alle Fantasy-Autoren können Joanne K. Rowling dankbar sein. Gerade in Deutschland war Fantasy lange Zeit verpönt, Michael Ende musste damals sehr kämpfen. Dazu habe ich übrigens die wilde Theorie, dass die Situation von Fantasy in Deutschland so besonders ist, weil der Faschismus unsere Märchen und Mythen so sehr benutzt hat, dass es uns verdächtig vorkommt, damit zu spielen. Das hat sich inzwischen geändert, aber die Wertschätzung, die der Fantasy-Literatur in der englischen und amerikanischen Welt entgegengebracht wird, gibt es in Deutschland nicht. Also: Einerseits hat Potter den Verlegern der Welt klargemacht, dass fantastisches Erzählen sehr erfolgreich sein kann – und dadurch wird auch den Fantasy-Autoren mehr Aufmerksamkeit zuteil, weil man ja immer auf den nächsten Potter hofft. Andererseits hat Potter gezeigt, dass Kinder sehr dicke und komplexe Bücher lesen. Ich wurde früher immer gebeten, nicht ganz so dicke Bücher zu schreiben. Das ist jetzt für alle Zeit aus der Welt. Und in England ist es übrigens so, dass durch Harry Potter ungefähr 40 Prozent mehr Eltern ihren Kindern laut vorlesen.

Apropos Lesen: Die neue Pisa-Studie hat ergeben, dass jeder fünfte Neuntklässler Texte nicht richtig lesen und verstehen kann. Was braucht eine gute Geschichte, um sich gegen Fernsehen und Smartphone durchzusetzen?

Zunächst einmal muss man das Gegeneinander vergessen. Wir sollten Fernsehen, Bücher und Videospiele als eine Familie begreifen. Es ist nicht wahr, dass Bücher immer besser sind. Wenn Kinder Lust auf Geschichten haben, möchten sie die mal mit Bildern, mal mit Geräuschen und mal mit Worten erzählt bekommen. Das hängt auch immer vom Temperament des Kindes ab. Als ich in die Schule ging, war ich die einzige, die heimlich unter dem Pult gelesen hat. Dieser Mythos, dass früher jeder gelesen hat, stimmt nicht. Genauso wenig wie, dass alle Erwachsenen lesen, und nur die Kinder nicht. Wenn Kinder ihren Eltern beim Lesen zugucken oder vorgelesen bekommen, wird ihnen das natürlich eine andere Beziehung zu Büchern geben. Das Signal kommt von der Gesellschaft: Wenn Bücher etwas Aufregendes und Kostbares sind, ist das wunderbar. Wenn Bücher aber nur das sind, was Lehrer einem verordnen, wenn Bücher sozusagen Medizin sind, dann werden Kinder sie nicht anfassen.

Sie arbeiten zurzeit an neuen Projekten. Worauf können wir uns freuen?

Im Moment arbeite ich, von einem kleinen Projekt abgesehen, an Fortsetzungen. Ich muss ja auch zu Ende bringen, was ich angefangen habe. Es wird noch einen dritten Drachenreiter geben und ein viertes Tintenbuch – dann ist diese Reihe aber auch abgeschlossen. Und ich schreibe zurzeit an einem vierten Spiegelwelt-Band, das werden insgesamt fünf Teile. Ich habe diese drei Universen, alles ganz verschiedene Welten, die aber trotzdem zusammenhängen, und verschiedene Lesergruppen ansprechen. Eigentlich kann ich mich als Geschichtenerzählerin in diesen drei Welten gut austoben. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich nochmal eine neue große Welt erschaffen muss.