Herr Hatterscheidt, wann hat Sie zuletzt ein Staatsanwalt in sein Büro zitiert und nach allen Regeln der Kunst zusammengefaltet?
Bernhard Hatterscheidt: Noch nie, das ist ein klassisches Klischee aus dem Krimi: der arrogante, böse Staatsanwalt, der die Polizisten von oben herab behandelt. In der Realität kenne ich das so nicht. Man wird auch nicht ins Büro zitiert, man telefoniert miteinander und spricht sich ab. Und: Anders als im Fernsehen sind Polizei und Staatsanwaltschaft nicht im selben Gebäude untergebracht, wobei das ehrlich gesagt manchmal schon ganz praktisch wäre.
Was geht Ihnen in Krimis sonst noch auf die Nerven?
Hatterscheidt: Völlig an den Haaren herbei gezogen ist es zum Beispiel, wenn der Ermittler einen gefährdeten Zeugen bei sich zu Hause versteckt. Mache ich das im richtigen Leben, bekomme ich ein Disziplinarverfahren. Um den Zeugenschutz kümmern sich bei der Polizei spezielle Fachdienststellen. Nerven ist übrigens das falsche Wort. Ich gucke zum Beispiel durchaus gerne „Tatort“, vor allem den aus Münster, weil der so absurd ist. Til Schweiger als Kommissar finde ich auch gut – komplett unrealistisch zwar, aber da ist wenigstens mal was los.
Auffallend häufig stellen TV- oder Roman-Kommissare im Verlauf ihrer Ermittlungen überrascht fest, dass sie einen Verdächtigen zufällig aus dem privaten Umfeld kennen. Ist Ihnen das auch schon mal passiert?
Hatterscheidt: Nie. Das ist auch total unrealistisch. Ich war in Köln sieben Jahre bei der Mordkommission und habe keinen einzigen Fall erlebt, in dem ein Kollege oder ich mal persönlich involviert gewesen wären. Dann würde man in aller Regel sofort von den Ermittlungen abgezogen werden. Unsinn sind auch die Alleingänge, die man von Kommissaren aus Büchern oder dem Fernsehen kennt. Ermittlungsarbeit ist Teamarbeit, eine Mordkommission besteht meistens aus fünf Kollegen oder mehr. Schon aus Sicherheitsgründen fährt man auch nie alleine raus, sondern immer mindestens zu zweit.
Im Fernsehen suchen Kommissare Verdächtige und Zeugen fast immer zu Hause oder am Arbeitsplatz auf, um sie zu vernehmen – auch Blödsinn?
Hatterscheidt: Naja, manchmal fährt man tatsächlich zu Zeugen oder Beschuldigten nach Hause oder zu ihrer Arbeitsstelle, zum Beispiel, wenn man den Überraschungseffekt ausnutzen möchte. Oder wenn sie zum Vernehmungstermin im Präsidium nicht erschienen sind. Oder auch, wenn man die Wichtigkeit ihrer Aussage unterstreichen möchte. Meistens aber werden Zeugen und Beschuldigte erst mal ins Büro des Sachbearbeiters geladen. Es gibt auch definitiv keine düsteren, verspiegelten Verhörzimmer im Keller des Präsidiums. Und ich habe in einem Fernsehkrimi noch nie gesehen, dass sich der Kommissar eine Aussage notiert oder auf Tonband aufgenommen hätte. Dabei ist das absolut unerlässlich, sonst vergisst man alles. Oder um es mit den Worten meines Vorgesetzten zu sagen: Die schärfste Waffe des Beamten ist der Vermerk.
Kennen Sie Kriminalromane, in denen es vergleichsweise realistisch zugeht?
Hatterscheidt: Bei deutschen Krimis ist das in der Tat schwierig, da fällt mir keiner ein. Kathy Reichs „Tote lügen nicht“ fand ich dagegen richtig gut. Ich kann zwar nicht sagen, ob die amerikanischen Kollegen tatsächlich genau so ermitteln, wie die Autorin es beschreibt. Jedenfalls finde ich es sehr authentisch geschildert und fühle mich beim Lesen an den Tatort versetzt.
Sie schreiben selbst seit Jahren Krimis, in diesen Tagen erscheint ihr sechster Roman. Schildern Sie darin die Polizeiarbeit so, wie sie wirklich ist?
Hatterscheidt: Ja, darauf lege ich auch großen Wert. In meinen Büchern werden Zeugen und Beschuldigte vor einer Vernehmung zum Beispiel vorschriftsmäßig über Ihre Rechte und Pflichten belehrt. Ich vermute, dass das anderen Autoren oder Drehbuchschreibern einfach zu langweilig ist. Außerdem kostet es wohl wertvolle Sendezeit. Aber Ermittlungen sind nun mal nicht immer so spannend, sie sind oft einfach eine trockene Materie.
Wie viel Privatleben der Kommissare verträgt eigentlich ein guter Krimi?
Hatterscheidt: Ich frage mich ehrlich gesagt manchmal sogar, ob ich nicht zu viel über das Privatleben meiner Protagonisten schreibe. Andererseits will ich den Lesern gerade zeigen, dass wir eben nicht alle einsame Wölfe sind und alleine und verlassen in Hotelzimmern leben.
Verarbeiten Sie wahre Fälle in Ihren Geschichten?
Hatterscheidt: Ja, ich orientiere mich an echten Fällen, vermische allerdings immer mehrere zu einem, damit der Leser möglichst keine Parallelen ziehen und Beteiligte sich nicht wiedererkennen können. In „Melaten Macchiato“ habe ich auch manche Ermittlungsschritte leicht verfälscht, um keine Dienstgeheimnisse zu verraten. Zum Beispiel wenn es darum geht, wie man IP-Adressen von Computern feststellen kann. Oder wenn ich die Wirkweise eines bestimmten Giftstoffs beschreibe – ich will schließlich keine Anleitung geben, welches Gift welche Symptome hervorruft. Das wäre dann doch ein bisschen zu viel der Realität.
Das Gespräch führte Tim Stinauer