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Debatte um Tip in der GastronomieWarum Trinkgeld eigentlich abgeschafft gehört

Lesezeit 9 Minuten
Kellnerin mit Trinkgeld

In Zeiten steigender Preise zahlen viele weniger Trinkgeld.

Köln – Über das Thema Trinkgeld wird derzeit viel diskutiert: Ob es in Zeiten rundum steigender Preise überhaupt noch angemessen ist? Wenn ja, wieviel? Und was geben die Deutschen im Durchschnitt? Eine Erhebung von Statista aus dem Jahr 2019 hat gezeigt: Bei einer Restaurantrechnung von 50 Euro tippen die meisten zwischen 2 und 5 Euro – also eher weniger als die gängigen 10 Prozent. Das war allerdings vor Corona, vor Kriegsausbruch und vor der Inflation.Heute ist die richtige Höhe des Trinkgelds mehr als nur eine Stil- oder Gewissensfrage, man könnte darüber eine gesellschaftspolitische Debatte über soziale Gerechtigkeit führen: Müssen wir ordentlich tippen, um Menschen mit meist niedrigen Gehältern zu unterstützen? Oder halten wir dieses System dadurch erst am Laufen? Und: Kann man essen gehen ohne zu tippen, wenn man gerade selbst wenig Geld hat?Darüber haben wir mit dem Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge, der „Benimm“-Expertin Ingeborg Arians gesprochen – und natürlich auch mit denen, die es unmittelbar betrifft: Menschen aus der Kölner Gastronomie.

Trinkgeld: Warum wird es plötzlich diskutiert?

Angestoßen hat die Diskussion um das Für und Wider von Trinkgeld die ARD-Moderatorin Anja Reschke, die sich in einem Tweet über die nachlassende Bereitschaft der Deutschen beschwerte, genügend Trinkgeld zu zahlen. Wie viele andere ist sie der Meinung: Tips (das ist das englische Wort für Trinkgeld) sind gerade jetzt eine notwendige Unterstützung für Beschäftigte mit Mini-Verdiensten, da sie am meisten unter der Inflation und den Folgen der Lockdowns leiden.

Betroffene, mit denen wir gesprochen haben, möchten das nicht öffentlich tun. Weil die Betriebe, in denen sie arbeiten, unter (Konkurrenz-)Druck stehen, auch wegen extremer Personalnot. Infolge der Lockdowns, damit verbundener Kurzarbeit und ausbleibender Trinkgelder, haben viele Kellnerinnen und Kellner die Branche gewechselt. Diejenigen, die blieben, müssen oft die fehlenden Arbeitskräfte ausgleichen. Und bringen teils bis zu 80 Prozent weniger Trinkgeld nach Hause, weil die Gäste ihr Geld mutmaßlich für die nächste Nebenkostenabrechnung zusammenhalten. Andere wissen nicht mehr, wie lange sie es sich noch leisten können, in die Stadt zur Arbeit zu fahren, da sie weit außerhalb wohnen, dort, wo sie mit ihrem niedrigen Verdienst die Miete zahlen können.

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Hohe Rechnung, wenig Trinkgeld.

Eine Kellnerin, die hauptberuflich in einem Traditionsbrauhaus in der Kölner Altstadt arbeitet, beklagt stellvertretend für viele andere, dass selbst Stammkunden, die früher mindestens zehn Prozent Trinkgeld gaben, seit dem starken Preisdruck nur noch auf ein, zwei Euro aufrunden, Cent-Beträge geben oder gar nichts, indem sie direkt mit der Karte zahlen. „Davor ging ich nach einer guten Schicht mit 60 bis 70 Euro zusätzlich nach Hause, heute ist es – wenn überhaupt – ein Drittel davon", sagt sie.

Was verdienen Servicekräfte in der Gastronomie?

Dazu muss man wissen: Diese Kellnerin arbeitet in einem Betrieb, der nach Tarif bezahlt, was etwa die Hälfte der knapp 3000 Lokale in Köln tun, jene nämlich, die Mitglied im Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) Nordrhein und in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) organisiert sind, und deren Neueinsteiger und Teilzeitbeschäftigte seit Mai 2022 im Schnitt 2200 Euro brutto im Monat, und mindestens 12,50 Euro pro Stunde verdienen. Fachkräfte ohne Führungsverantwortung erhalten laut neuem Tarifvertrag nach 4,5 Jahren Betriebszugehörigkeit 2750 Euro.

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Marc Kissinger ist Gewerkschaftssekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Region Nordrhein.

„Ab Oktober gibt es zwar 220 Euro brutto mehr für alle Beschäftigten, die tarifvertraglich gebunden sind, und den erhöhten Mindestlohn, aber wir haben verhandelt, als die Inflation und der starke Preisanstieg nicht vorherzusehen war", sagt NGG-Gewerkschaftssekretär Marc Kissinger. „Ich wage zu behaupten, dass wir auch für dieses Gehalt keine Mitarbeiter mehr bekommen", sagt Dehoga-Sprecher Mathias Johnen.

Längst nicht alle Servicekräfte haben einen tariflich geregelten Lohn, nicht jede und jeder arbeitet Vollzeit, die meisten auf Basis eines Minijobs, weshalb sie auf Trinkgeld angewiesen sind, „das in guten Zeiten bei vielen sicher schon mal ein Drittel und mehr der Einkünfte ausgemacht hat", bestätigt Johnen.

Trinkgeld: Wichtige Stütze in Krisenzeiten?

Außerdem ist die Höhe des Trinkgeldes nicht zuletzt abhängig von der Beliebtheit und der Lage des Lokals – dort, wo viel Laufkundschaft und Touristen einkehren, dürfte es mehr geben als in einer Eckkneipe eines abgelegenen Veedels. Damit verstärke das Trinkgeld bestehende Ungerechtigkeiten, weshalb stattdessen faire Löhne gezahlt werden sollten, sagen einige Betroffene, sowie Gewerkschaftsmitglieder und Armutsforscher wie Christoph Butterwegge: „Trinkgelder sind ein feudales Relikt, fördern die soziale Ungleichheit und führen in letzter Konsequenz zu Altersarmut."

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Trinkgelder sind zwar steuerfrei, was zunächst verlockend klingen mag, sichert die Empfänger aber nicht ab, wenn es darauf ankommt – sobald es nämlich um sozialversicherungspflichtige Ansprüche auf Rente, Kranken- oder Arbeitslosengeld geht. „Oder um Kurzarbeit, dann zählen nämlich nur noch 60 bis 67 Prozent des Bruttogehalts und das Trinkgeld fällt weg. Bei keinem Mietvertrag, keinem Kredit wird das Trinkgeld mitgerechnet, da zählt der Brutto-Verdienst", sagt Marc Kissinger.

Die Sache mir der Willkür: Trinkgeld befördert Ungleichheit

Butterwegge ist der Auffassung, dass Trinkgelder Arbeitgeber zu geringen Löhnen verleiten würden. „Es ist ja kein Zufall, dass sie gerade dort üblich sind, wo Beschäftigte schlecht bezahlt werden, allen voran in der Taxibranche und der Gastronomie".

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Der Kölner Politologe und Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge.

Nun haben aber auch viele Wirtinnen und Wirte in diesen Zeiten mit sinkendem Konsum, hohen Fixkosten, steigenden Einkaufspreisen und massivem Personalmangel zu kämpfen. Würden sie noch höhere Löhne zahlen, müssten sie das auf ihre Speise- und Getränkepreise umlegen. Was wiederum zu Ungleichheit führen würde, da sich dann schlechter Betuchte keinen Restaurantbesuch mehr leisten könnten.

Butterwegge setzt dem entgegen, dass die Ungleichheiten, die das Trinkgeld mit sich bringe, nicht weniger gravierend seien. „Weil dessen Höhe niemand festsetzt, wird eine attraktive Kellnerin, die charmanter lächelt als ihr griesgrämig dreinschauender Kollege, der vielleicht seine Frau pflegt und dringend finanzieller Unterstützung bedarf, mehr Trinkgeld bekommen. Gäste, die mehr geben können, werden vermutlich besser behandelt als jene, die mit ihrem Geld haushalten müssen." Gäbe es statt in der Höhe schwankenden Trinkgeldern einen angemessenen Lohn, würde es für die Gäste vielleicht teurer, aber für alle gleich und ausgewogener.

Statt der Wirte und Gäste: Muss die Politik für Gerechtigkeit sorgen?

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Mathias Johnen ist Stellvertretender Geschäftsführer der Dehoga Nordrhein Region Köln Bonn.

Wenn sich Menschen mit wenig Geld diese Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht mehr leisten können, Wirte mit den Folgen von Pandemie, Inflation und Personalmangel zu kämpfen haben, Servicekräfte unter ausbleibendem Trinkgeld leiden, wäre es dann nicht die Aufgabe der Politik, Abhilfe zu schaffen? „Jeder Mensch muss mit seinem Lohn oder Gehalt ein würdevolles Leben leben können", sagt Butterwegge. Solange das nicht der Fall sei, müsse der Sozialstaat für einen echten Lastenausgleich sorgen, indem er zusätzliche Belastungen von Armen und Geringverdienern passgenau und kontinuierlich über die Krisenzeiten hinweg ausgleicht. Und auch die Wirtinnen und Wirte in Krisen unterstützt: Laut Mathias Johnen sind jedoch noch keine Ausgleichszahlungen bei den Mitgliedern seines Verbandes eingegangen.

Kleiner Knigge: Welches Trinkgeld für wen? Und wie?

Bei aller Kritik daran, ziehe Christoph Butterwegge persönlich aber nicht den Schluss daraus, auf Trinkgelder zu verzichten. „Ich zahle sie, aber eher ungern und in Maßen, da ich diese Form des Almosens für beide Seiten als demütigend empfinde." Die ehemalige Protokollchefin der Stadt Köln, Ingeborg Arians meint, man müsse auch die sozialen Umgangsformen und ungeschriebenen Regeln einer Gesellschaft im Blick behalten: „Trinkgelder haben in unserer Gesellschaft eine lange Tradition. Sie dienen seit jeher als Ausdruck der Anerkennung für gute Arbeit und als Zeichen der Wertschätzung.

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Ingeborg Arians ist ehemalige Protokollchefin der Stadt Köln, Benimm- und Stilexpertin und schreibt regelmäßig Kolumnen über gutes Miteinander im KStA-Magazin.

Nun ist Deutschland nicht gerade Weltmeister in der Vergabe von Lob und Anerkennung", sagt Arians und appelliert, „in Krisenzeiten, das Trinkgeld vorab einzukalkulieren und nicht ausgerechnet dort zu sparen, wo die Unterstützung am notwendigsten ist". Sondern das zu geben, was sich über die Zeit hierzulande als Extra-Gabe für das Personal von Hotel- und Gaststättenbetrieben eingespielt hat: Zehn Prozent des Rechnungsbetrags, bei Beträgen über 100 Euro genügten auch fünf Prozent, am besten bar und nicht mit Karte, da es dafür, wie auch Dehoga-Sprecher Johnen sagt, noch kein transparentes Abrechnungssystem gebe.

Welches Trinkgeld für wen?

Die ehemalige Protokollchefin der Stadt Köln und Benimm-Expertin Ingeborg Arians empfiehlt, auch folgende Personen, die eine Dienstleistung für uns erbringen, mit einem Trinkgeld, oder besser: einem freiwilligen Zeichen der Zufriedenheit und Dankbarkeit zu versehen:

⦁ Bei Lieferdiensten sind wie im Restaurant rund 5 bis 10 Prozent Trinkgeld angemessen

⦁ Bei Taxifahrten empfiehlt Arians den Fahrpreis aufzurunden plus 1 bis 3 Euro

⦁ Die 10-Prozent-Regel gilt auch in Friseur- und Kosmetiksalons

Im Hotel sollten Koffer-Boys und -Girls 1 bis 2 Euro pro Gepäckstück erhalten, für den Zimmerservice sollten 2 bis 4 Euro pro Nacht im Umschlag hinterlassen werden, der Wagenmeister sollte 1 bis 3 Euro bekommen, der/die Concierge 5 bis 10 Euro

⦁ Im Theater, Musical oder in der Oper sollten Servicekräfte an der Garderobe 50 Cent bis 1,50 Euro pro Aufbewahrungsstück erhalten

⦁ Für die WC-Servicekraft sei 1 Euro angemessen

Privates Event: Richtet man zu Hause oder in einer Eventlocation eine größere Feier aus, sollte auch an das Personal in der Küche und im Service gedacht werden, das, ähnlich wie im Restaurant jeweils mit zehn Prozent honoriert werden sollte. Tipp: Eine Sammlung unter den Gästen organisieren und im Umschlag übergeben

Tour-Busfahrer/Fremdenführer: 2 bis 5 Euro pro Person hält Arians bei längeren Ausflügen für anständig

Wenn das Trinkgeld, wie Arians betont, ein finanzielles Dankeschön für guten Service ist, bedeutet das umgekehrt auch, dass man keines geben sollte, wenn der Service mies war, oder so empfunden wurde? „Wir alle wissen, dass Gaststätten gerade unter Kräftemangel leiden, und das vorhandene Personal unter Druck steht; da sollten wir uns nicht selbst zum Gutachter aufschwingen, und kein Geld geben, wenn wir zu lange auf die Rechnung warten mussten, wer weiß, was die Ursache war", sagt Arians. „Wenn man als Gast Anlass zur Kritik hat, sollte man das Problem direkt ansprechen, nicht erst mit der Rechnung."

Rechtliches: Mein Trinkgeld gehört mir!

Aber woher weiß man überhaupt, ob das Trinkgeld da ankommt, wo es hingehört? Und wem gehört es rechtlich gesehen? Müssen Kellnerinnen und Kellner es mit den Kollegen hinterm Tresen oder in der Küche teilen? Laut Paragraf 107 der Gewerbeordnung ist niemand verpflichtet, sein Trinkgeld zu teilen, vor allem nicht mit dem Chef oder der Chefin. Demnach ist es nämlich kein Teil des Lohns; der Paragraf verbietet sogar, dass Servicekräfte nur mit Trinkgeld entlohnt werden, auch die Anrechnung auf den Lohn ist tabu. „Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn Inhaber einer Gastronomie Trinkgeld erhalten, zählt es zu den Betriebseinnahmen und muss versteuert werden", sagt Johnen. Rechtlich dürfen Chefs damit auch nicht einseitig über die Aufteilung des Geldes ans gesamte Team bestimmen. Es sei denn, es ist im Arbeitsvertrag geregelt, das Trinkgeld im Kollegenkreis pro Schicht, pro Tag oder pro Woche aufzuteilen.