AboAbonnieren

Kommentar

Casting-Plan des Kölner Ordnungsamts
Straßenmusik ist Kunst

Lesezeit 4 Minuten
Klaus der Geiger spielt im Dezember 2021 bei einer Demo gegen Wohnungsnot in Köln.

Klaus der Geiger spielt im Dezember 2021 bei einer Demo gegen Wohnungsnot in Köln.

In den 1970er Jahren wollte das Kölner Ordnungsamt schon einmal Straßenmusiker aus dem öffentlichen Raum verdrängen. Ziel der Aktion war ein prominenter Künstler.

Die Idee des Kölner Ordnungsamts, die Straßenmusik in der Stadt einer amtlichen künstlerischen Qualitätskontrolle zu unterziehen, klingt verlockend. Nicht nur, weil Köln dann endlich - wenigstens straßenmusikalisch - mit London, Madrid, Paris und New York gleichziehen könnte. Für den Kulturanspruch einer Millionenstadt ist es gewiss ein gutes Zeichen, wenn der Leiter des Ordnungsamts sich auch dienstlich als Freund schöner Musik ausweist und seine Bürgerschaft sowie das internationale Publikum davor schützen will, neben maroden Straßenbahnen und vermüllten Plätzen auch noch schiefen Gesang und stümperhaftes Geklimper im öffentlichen Raum ertragen zu müssen.

Christoph Schmitz-Scholemann

Christoph Schmitz-Scholemann

geboren 1949 in Solingen, war Richter am Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Der Lyriker und Übersetzer ist Mitglied des PEN Zentrums Deutschland. Zuletzt erschien von ihm eine Neuübersetzung von Homers „...

mehr

Gleichwohl erwachten in mir, als ich von dem Vorhaben las, irgendwie störende Erinnerungen aus längst vergangener Zeit. Es waren die späten 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ich war für ein paar Monate als Rechtsreferendar bei der Stadt Köln tätig. Im Ordnungsamt. Dort hatte man ein Problem, dem man rechtlich zu Leibe rücken wollte. Das Problem hatte auch einen Namen: Klaus Christian von Wrochem, alias Klaus der Geiger. Zufällig kannte ich ihn ganz gut. Wir wohnten im selben Haus in der Kölner Südstadt. Er war schon damals nicht nur ein Teufelsgeiger, sondern auch ein lustiger Nachbar, der an Nikolausabenden einen raubeinigen und polternden Knecht Ruprecht gab, sehr zur Freude der Kinder.

Für das Kölner Ordnungsamt war Klaus der Geiger ein Störenfried

Für das Ordnungsamt aber, das von meiner Bekanntschaft mit Klaus Christian von Wrochem nichts wusste, war er hauptsächlich ein Störenfried: Er sang, wie bekannt, auf der Hohe Straße oder der Schildergasse garstige, antikapitalistische Lieder, und er fiedelte dazu sehr wild auf seiner Geige. Er sang nicht schön im klassischen Sinn. Aber er hatte Feuer. Die Texte waren meiner Meinung nach literarisch eher nicht die oberste Schublade. Als ich Anfang der 2000er Jahre nach Thüringen umzog, wurde ich eines Besseren belehrt. Ein in Weimar lebendes, hochdekoriertes Haupt der deutschen Lyrik fragte mich als Erstes, ob ich den genialen Kölner Dichter Klaus von Wrochem kenne, der schreibe nämlich großartige Texte.

Natürlich ärgerten sich damals auch manche Passanten über die frechen und heftigen Attacken des singenden Geigers gegen Banken und Kaufhauskonzerne. Besonders wenig gefielen seine Darbietungen der Polizei: Sie sah darin eine Störung der öffentlichen Ordnung. Klaus wurde immer wieder festgenommen und abgeführt, gelegentliche Aufenthalte in Arrestzellen inbegriffen.

Straßenmusik ist Kunst

Das Ordnungsamt überlegte deshalb, wie man Klaus den Geiger juristisch in den Griff kriegen könnte. Und zu diesem Zweck erhielt ich den Auftrag, ein Rechtsgutachten zu erstellen. Leider habe ich es nicht aufbewahrt, aber ich weiß noch ungefähr, zu welchem Ergebnis ich kam. Die Kurzfassung: Straßenmusik ist Kunst. Und Kunst steht unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. In Artikel 5 Absatz 3 GG heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Das bedeutet, bezogen auf den Liedersänger: Der Staat kann ihm weder vorschreiben, was seine Texte beinhalten dürfen, noch, wie er singt und fiedelt.

Natürlich haben auch Nichtkünstler ihre verfassungsmäßigen Rechte: Man darf ihre Lyrik hassen, man muss die Stadtmusik nicht lieben. Und selbst die schönste Musik kann störend sein. Zum Beispiel, wenn sie sehr laut ist. Oder wenn so viele zuhören, dass man Geschäftseingänge nicht mehr findet. In der Praxis muss es also Kompromisse geben, mit denen Künstlerinnen und Kunstgegner leben können.

Ein dickes verfassungsrechtliches Problem

Besonders beliebt gemacht habe ich mich mit meinem damaligen Gutachten nicht beim Ordnungsamt. Ich glaube, es verschwand in irgendeinem Aktenkeller. Denn das, was man eigentlich haben wollte, nämlich eine rechtliche Grundlage zum Spielverbot für unliebsame Musiker, hatte ich nicht bieten können.

Das war vor 50 Jahren. An der Rechtslage hat sich wenig geändert. Die Kunst ist immer noch frei. Das heißt auch heute nicht, dass Kunst, wie man manchmal lesen kann, alles darf. Nein, auch Künstler dürfen niemanden beleidigen, verletzen, betrügen und so weiter. Aber Kunstfreiheit bedeutet auch heute noch auf jeden Fall, dass keine staatliche Stelle bestimmen kann, was gute und was schlechte Kunst ist. Heißt: Ein Casting für Stadtmusik, wie vom Chef des Kölner Ordnungsamts vorgeschlagen, ist ein dickes verfassungsrechtliches Problem.

Aber wenn einer nun überhaupt nicht richtig spielen oder eine nur kreuzschief singen kann? Darf man das etwa auch nicht verbieten?

Ich denke nicht. Ganz abgesehen vom Rechtlichen: Kunsturteile sind die unsichersten, die es gibt. Den besten Beleg dafür liefert die Kunstsachverständige des Münchner Ordnungsamts, die eine junge Straßenmusikerin beim Casting durchfallen ließ, weil sie nur einen Akkord auf der Gitarre spielen konnte. Die gute Frau wusste offenbar nicht, dass es anerkannte Komponisten gibt, die sogar mit einem einzigen Ton auskommen. Und sie hatte bestimmt auch noch nichts vom längsten Orgelkonzert der Welt gehört, das seit 2001 in Halberstadt aufgeführt wird: Es dauert 639 Jahre. Und gespielt wird „Organ2/ASLSP“, ein Werk von John Cage: Immer nur ein Ton, der sich etwa einmal jährlich ändert.

Dagegen ist eine noch so minimalistische Straßenmusik doch maximal abwechslungsreich.