Feier fällt ausEine Kölner Schülerin erzählt, was sie in ihrer Abi-Rede sagen wollte
- Wie viele andere Großveranstaltungen und Feste ist auch die Abiturfeier am Kölner Montessori-Gymnasium abgesagt.
- Wir dokumentieren in einem Gastbeitrag, was Abiturientin Luzia Otto in ihrer Rede sagen wollte.
- Obwohl ihr Abitur, der erste wichtige Abschluss, für sie irgendwie unterzugehen scheint, zieht sie trotzdem etwas Positives aus der Situation.
Köln – Seien wir ehrlich: So haben wir uns das alle nicht vorgestellt, und deshalb können wir enttäuscht sein, sauer und traurig. Wir wollten schön zusammen unser Abi feiern, haben zwei Jahre geplant, wollten einen gemeinsamen Abschluss finden. Das bleibt uns verwehrt. Darum soll es jetzt aber nicht gehen.
Denn so blöd die ganze Situation ist, so wenig können wir es ändern. Wir sind eingeschränkt, fühlen uns ungerecht behandelt, alles scheint gegen uns zu laufen, und für all das Unglück gibt es nicht mal einen Schuldigen, auf den wir es abwälzen könnten. Unser Abitur, der erste wichtige Abschluss, scheint irgendwie unterzugehen. Aber Freiheit ist trotzdem möglich, und deshalb habe ich mich auf das konzentriert, was jetzt frei sein kann: mein Kopf, meine Gedanken.
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Für mich ist Sprache, sind Worte und Geschichten das wichtigste Ausdrucksmittel, und deshalb geht es hier darum. Aber übertragt es einfach auf das, was euch erfüllt; auf das, was euch einen Mehrwert gibt; und auf das, was es euch ermöglicht, euch auszudrücken! Übertragt die Freiheit des Wortes auf den Teil eures Selbst, der im Stress unterdrückt worden ist und den ihr jetzt hervorholen wollt. Überträgt es auf etwas für euch Wichtiges!
Was sagt eine Punktzahl schon aus?
Ich habe lange keine Worte mehr gefunden oder zumindest lange nicht die richtig wichtigen. Nur die Worte wurden ausgesprochen, die mir zeigen, wie gut ich bin – mit Worten, die meinen Wert an einer Ziffer festmachen. 14 Punkte kamen bei mir heraus. Sehr gut. Aber was sagt das schon aus? Nur die Worte wurden ausgesprochen, die uns mit den anderen vergleichen sollen. „Und du? Was hattest du in deiner Klausur?“ – „Also, neun Punkte ist bisher das Schlechteste.“ – „Weißt du was von XY?“
Lange war keine Zeit für die richtigen Worte, obwohl ich sie mir so sehr gewünscht habe. Lange habe ich sie nicht zugelassen, sie sind manchmal aufgetaucht, aber sie schienen nicht wichtig genug. Wichtiger war das Starren auf Papier mit Worten, die ich auswendig lernen musste. Wichtiger war, dass ich nun endlich begreife, dass in einer Woche mehr Geld durch die Welt fließt als Güter gehandelt werden, dass unser System irgendwie absurd ist und immer die gewinnen, die das meiste Geld haben. Lange wurden die guten Gedanken und Worte verdrängt, zurückgesperrt, aber jetzt sind sie frei. Freier denn je, würde ich sagen. Denn die Last ist weg und das Gewicht gefallen. Die Aufgaben sind erfüllt, die Prüfungen bestanden.
Und doch es ist nicht so, dass keine schönen Sachen passiert wären. Wir haben trotzdem Brownies mit zu viel Zucker und Butter gebacken. Wir haben am Abend im Schrebergarten gesessen und Bier getrunken. Wir haben trotzdem im Park die Sonne genossen, und wir haben trotzdem Eis gekauft. Wir haben eine Fahrradtour gemacht und am Lagerfeuer Kirschen gegessen. Wir haben trotzdem etwas erlebt. Zusammen, wenn auch in kleineren Gruppen.
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Aber lange Zeit war das nicht das, was gezählt hat. Es hat alles nur stattgefunden. Wir waren einen Moment glücklich, aber eine Stimme sagte uns ständig, dass es nicht richtig sei. Dass die Zeit gerade falsch genutzt werde. Wir zählten nicht die Stunden draußen, sondern die Stunden, die wir drinnen saßen, die Stunden, die wir uns mit den Worten beschäftigten, die wir jetzt lernen sollten. Die Worte, die bestimmen, ob du einen Beruf später machen kannst oder nicht. Weil sich aus den Worten, die du jetzt lernst und später sagst, eine Punktzahl ergibt, die deinen wirtschaftlichen Wert und damit in gewisser Weise auch deinen gesellschaftlichen Wert bestimmt.
Das letzte Kapitel in einer langen Geschichte
Und das ist jetzt vorbei. Einfach vorbei. Das letzte Kapitel in einer langen Geschichte. Ein dicker Band. Ganz glauben kann ich es noch nicht. Die Danksagung fehlt noch, ein Schluss, der das Ganze abrundet. Hoffentlich kommt der Teil noch. Man weiß ja nie in den heutigen Tagen, welches Virus das öffentliche Leben noch behindern wird; welcher Anschlag die Gesellschaft spalten, welcher Mord sie erschüttern wird. Alles ziemlich unberechenbar. Um die Geschichte würdevoll zu beenden, hoffe ich, dass die lang verdrängten Worte endlich Platz finden, endlich zum Vorschein kommen.
Ich habe lange keine Worte mehr gefunden, die ausdrücken können, was wirklich passiert. Was wirklich wichtig ist. Was uns als Menschen bewegen sollte. Lange keine Worte für das, was uns vereint, für Liebe und Zuneigung. Gleichzeitig auch keine Worte, um Erschrecken und Angst, Entsetzen und Wut über den Menschen und seine Taten zuzulassen. Lange keine Worte, die einen Mehrwert haben. Ich habe lange nicht mehr alles zulassen können. Und lange schon gewartet auf die Zeit, in der die Gedanken wieder frei fließen. Diese Zeit kommt jetzt.
„Zeugnisvergabe mit dienstlichem Zweck“
Anstelle einer Abiturfeier ist am Montessori-Gymnasium für den 26. Juni eine „Zeugnisvergabe mit dienstlichem Zweck“ vorgesehen. In 15-minütigem Abstand sollen jeweils sechs Schülerinnen und Schüler in Begleitung ihrer Eltern ihr Abschlusszeugnis entgegennehmen. (jf)
Vielleicht sagt mancher unter euch, der schon ein paar Jahre mehr gelebt hat, wie naiv es doch sei; dass wir ab jetzt viel weniger frei seien, weil Beruf und Älterwerden viel härter sind als die Schulzeit mit einstündigen Pausen. Aber glaubt mir: Ich fühle mich gerade frei, und das zählt. Wir können jetzt ein leeres Buch beschreiben. Lass es so dick werden, wie du willst! Es ist egal, in welcher Farbe du schreibst, ob in Großbuchstaben oder Schreibschrift. Du kannst auch den Computer nehmen, aber schreib einfach! Jetzt kannst du die Wege deiner Gedanken bestimmen – und nicht der Text über die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik nach John Maynard Keynes .
Jetzt ist kurz mal alles frei, und was später kommt, ist gerade egal, denn jetzt bist du dran.