Medizinhistoriker über Corona„Wir erleben gerade das Ende der Pandemie“
- Heiner Fangerau ist ein deutscher Medizinhistoriker und Medizinethiker.
- 2017 wurde er zum Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gewählt. Er lehrt an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, wo er seit November 2020 auch Prodekan für Strategische Entwicklung der Medizinischen Fakultät ist.
- Im Interview spricht er über die Wahrnehmung von Seuchen, Lehren aus dem Coronavirus und den Vergleich zur mittelalterlichen Pest
Herr Fangerau, wie endet eine Pandemie?Fangerau: Pandemien sind emotionale Geschehen. Sie werden verständlicher, wenn man versucht, die Emotionen dahinter zu verstehen. Pandemien haben gleichzeitig sehr viel mit ihrem Nachrichtenwert zu tun. Eine Pandemie, über die nicht gesprochen wird, wird auch nicht als solche erkannt. Das heißt, dass die mit der Pandemie verbundenen Emotionen so stark sein müssen, dass Nachrichten über sie interessant sind oder dass Nachrichten über das pandemische Geschehen Emotionen auslösen müssen. In gewisser Weise endet eine Pandemie also, wenn sie aus der Aufmerksamkeit verschwindet. Das bedeutet nicht, dass das Virus weg ist, aber es ist weniger emotional aufgeladen oder weniger interessant. Im Vergleich zu Krebserkrankungen und Blutvergiftungen wurde zum Beispiel sehr viel über das Coronavirus gesprochen. In der Geschichte war die Cholera so eine Erkrankung an der zwar nicht die meisten Menschen starben, die aber am stärksten im Fokus der Aufmerksamkeit war.
Verstehe ich Sie hier richtig: Die Pandemie endet, wenn wir nicht mehr über sie sprechen?
Das ist eine von drei Perspektiven, die ich als sozial-kommunikative Perspektive überschreiben würde. Wenn der Nachrichtenwert nicht mehr da ist und Menschen ihr normales Leben aufnehmen, endet die Pandemie auf eine Art. Menschen nehmen das Erkrankungsrisiko in Kauf, um ihr altes Leben zurückzubekommen. In mittelalterlichen Städten zeigte sich dieser Effekt, wenn Händler in Städte zurückkehrten, in denen die Pest gewütet hatte. Eine zweite Perspektive nimmt einen statistischen Blick ein: Infektions- und Todeszahlen sinken gegen Null. Nach diesem Kriterium sind wir weiterhin in einer Pandemie, wenngleich kein exponentielles Wachstum mehr erfolgt. Eine dritte Perspektive wäre politisch. Eine Autorität entscheidet, dass eine Pandemie vorbei ist oder leugnet sie schlechterdings. Queen Victoria etwa verkündete das Ende der Cholera in London mit einem Thanksgiving-Day, als es immer noch Erkrankte gab. Während der Spanischen Grippe wiederum unterband die Zensur zum Beispiel Berichte über Todeszahlen oder Infektionen. Es sollte im Ersten Weltkrieg nicht über die Grippe gesprochen werden, um die Kriegsmüdigkeit im Land nicht noch weiter wachsen zu lassen. So gesehen gab es eine Pandemie, aber die politische Autorität erkannte sich nicht als solche an.
Erleben wir derzeit eine Art Pandemie-Ende?
Ja, eine Kombination aus politischem und sozial-kommunikativem Ende. Die Politik fährt ihre Maßnahmen zurück, in den Nachrichten überlagert der Angriff Russlands auf die Ukraine alles. Es gibt hier sicherlich einen Zusammenhang. Aber auch vor Kriegsbeginn hatte sich die Risikowahrnehmung bzw. pandemiebezogene Aufmerksamkeit vieler Menschen erheblich verschoben.
Wie groß ist der Einfluss des Krieges auf die Wahrnehmung der Pandemie?
Auf politischer Ebene schätze ich den Einfluss als eher gering ein, die gelockerten Maßnahmen waren im Grunde vor Beginn des Krieges geplant. In der Nachrichtenlage gibt es eine erhebliche Verschiebung, das ändert die Wahrnehmung massiv. Heute ist es die Aufmerksamkeit, die sich verlagert, im ersten Weltkrieg war es die Zensur, die verhinderte, dass die Influenza-Pandemie als solche wahrgenommen wird. Da liegt ein Unterschied.
Können wir aus der Pest und der Spanischen Grippe tatsächlich etwas über das Ende der Corona-Pandemie lernen?
Man muss immer vorsichtig mit historischen Vergleichen sein: Die Gesellschaften, in denen sich die genannten Pandemien abspielten, sind nicht mit unserer gleichzusetzen. Die Welt wurde damals grundlegend anders wahrgenommen. In der Pest gab es keine Massenmedien, Raum und Zeit waren noch nicht eng miteinander verknüpft. Bei der Cholera im 19. Jahrhundert war das schon anders, es gab Massenmedien, Dampfschifffahrt, Verkehrswege. Heute wiederum reisen Personen und Nachrichten in Echtzeit, da liegt ein grundlegender Unterschied. Auch ist die Gesellschaft anders zusammengesetzt: Heute haben wir viele alte und wenige junge Menschen, im ausgehenden 19. Jahrhundert war das umgekehrt. Man hatte ferner ein anderes Verhältnis zum Tod, eine hohe Säuglingssterblichkeit etwa war an der Tagesordnung. Die Medizin-Konzepte sind heute auch völlig andere, bis ins 19. Jahrhundert hinein hat man noch um eine naturwissenschaftlich fundierte Wahrnehmung von Pandemien gerungen. Insgesamt ist die Geschichte eher geeignet, zu verstehen, wie unser heutiges Gesundheitssystem entstanden ist, als dass man konkrete Handlungsanleitungen aus ihr ableiten kann. Man kann deswegen andersherum auch nicht absehen, wie die nächste Pandemie ablaufen wird.
Pandemien sind also nicht nur Erreger, die sich ausbreiten, sondern vor allem die Summe einer historischen Konstellation.
So ist es. Es ist sehr schwer zu sagen, wie sich das Coronavirus in einem anderen Jahrhundert verbreitet hätte – und wie es wahrgenommen worden wäre. Eine Trennung von Natur und Kultur ist hier kaum möglich. Menschliche Handlungen haben Auswirkungen auf das virale Geschehen und andersherum. Die interessante Parallele zur Spanischen Grippe ist die, dass es ein Pandemie-Geschehen durch einen Erreger gibt und gab, der vom Tier auf den Menschen übergegangen ist. Wir haben solche Zusammenhänge in Zentraleuropa nur etwas verdrängt. Das Coronavirus hätte sich damals wohl langsamer verbreitet als heute, einfach aufgrund der fehlenden Flugrouten. Doch es hätte sicher ebenfalls um sich gegriffen. Das Influenza-Virus hat allerdings vor allem junge Menschen befallen, das Coronavirus macht vor allem alte Menschen krank. Vielleicht wäre das Coronavirus also damals weniger aufgefallen.
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Wie definieren wir rückblickend den Punkt, an dem die Spanische Grippe als Pandemie vorbei war?
Medizinhistorisch lässt sich das nicht datieren. Aber grundsätzlich spielen Immunität und Aufmerksamkeit beim Ende eine Rolle: Menschen tragen das Virus in sich, sie erkranken aber in der Regel überhaupt nicht mehr. Darüber hinaus hat sich die Gesellschaft an eine gewisse Zahl saisonaler Influenza-Toter gewöhnt, ähnlich wie bei Verkehrstoten. Bei Corona halte ich ein Szenario für wahrscheinlich, in dem wir irgendwann eine recht stabile Immunität gegen die wesentlichen Bestandteile dieses Virus aufgebaut haben, sodass wir nicht mehr erkranken, wenn wir infiziert sind und das Virus damit auch aus der öffentlichen Debatte verschwindet.
Kann die Corona-Pandemie eine wichtige Lernerfahrung für künftige Pandemien sein?
Schön wäre es. Aber: Alles, was wir aus dieser Pandemie mitnehmen, wussten wir schon vorher. Die Maßnahmen, die Hygienekonzepte, das Zusammenleben von Mensch und Tier und die Zerstörung von Natur als Risiko, das alles ist überhaupt nicht neu. So gab es zum Beispiel auch nach der Ausbreitung des MERS-Virus 2012, das uns in Deutschland nie erreicht hat, konkrete aktualisierte Pandemie-Pläne. Alles, was wir gebraucht hätten, lag in den Schubladen. Das kollektive Gedächtnis von Gesellschaften ist aber in manchen Dingen sehr kurzlebig. Andere Mechanismen scheinen immer die gleichen zu sein: Erst heißt es, es gebe keine Pandemie, dann betrifft sie scheinbar nur wenige, dann kommt der Alarm – und dann die Schuldfrage. Es wird wohl eher nicht gelingen, die nächste Pandemie aufzuhalten.
Können wir mit den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre denn zumindest unser Gefahrenbewusstsein für andere Erreger nun schärfen?
Im 19. Jahrhundert haben die Gesellschaften mit Blick auf Cholera eine umfassende Hygiene entwickelt, von der wir noch heute profitieren. Umwelt, Soziales und die Keime selbst, das waren die drei Themen, die als zusammenhängend erkannt wurden. Unsere Kanalisation ist eine Präventionsmaßnahme gegen Seuchen, die daraus entstanden ist. Diese Infrastruktur wirkt sehr effektiv. Wenn wir einige Grunderfahrungen mitnehmen, können wir zumindest die Zeit bis zur nächsten Pandemie ausdehnen. Politisch neigen wir bloß dazu, als erstes bei der Prävention zu sparen. Die knappen Masken zu Beginn 2020 waren eine Folge reduzierter Bestände: Wir wollten Lagerplatz sparen. Das Coronavirus erinnert unsere Gesellschaft, die sich als modern versteht, daran, dass wir es weiterhin mit einer nicht durch Menschen kontrollierbaren, aber mit ihm und seinen Handlungen verbundenen Natur zu tun haben. Wir können uns von der Welt, in der wir leben, nicht loslösen.