Corona und Kölner Schulen„Viele haben lesen und schreiben wieder verlernt“
Köln – Die meisten Kölner Schüler haben sich so etwas wie stoischen Fatalismus zugelegt: Seit mehr als vier Monaten können sie die Tage, an denen sie die Schule betreten haben, an zwei Händen abzählen. Der ritualisierte morgendliche Blick auf die Inzidenz bringt die Gewissheit, dass es mit dem Lernen im Distanzunterricht auch diese Woche weitergeht, während etwa in Düsseldorf oder Neuss die Schüler im Wechselunterricht zur Schule dürfen.
Wieviel Lehrstoff im Dauerdistanzunterricht hängen bleibt, das weiß derzeit keiner wirklich. Dazu, wie groß die Lerndefizite sind, gibt es keine Daten. Auch die meisten Eltern haben jeden Einblick verloren oder sind nach zig Monaten der Schulschließung zu müde, um noch etwas zu fordern. Nur so viel ist gewiss: Alle halten tapfer durch, aber die Lernmotivation steigt nicht.
Dafür wächst aber die Sorge vieler, wie die Lernlücken aus nun schon zwei langen Lockdownphasen gefüllt werden können. Eltern sind aufgeschreckt durch die Ergebnisse der repräsentativen Umfrage des Ifo-Instituts, dass deutsche Schüler pro Tag mehr als drei Stunden weniger gelernt haben als zu normalen Zeiten. Statt 7,4 Stunden täglich waren es nur noch 4,3, wie das Münchner Institut mitteilte. Nach Schätzungen des Deutschen Lehrerverbandes sind für Kinder und Jugendliche seit Beginn der Pandemie durchschnittlich 400 bis 600 Präsenzunterrichtsstunden ausgefallen. Präsident Heinz-Peter Meidinger, schätzt, dass bei mindestens 20 Prozent der Schüler der Förderbedarf nach Corona sehr stark sein wird. Jetzt müssten Konzepte her, damit keine „verlorene Schülergeneration“ entstehe.
Sorgen um die Grundschüler
Auch der Bildungsexperte und Bestsellerautor Aladin El-Mafaalani fordert die Politik auf, jetzt ausgereifte Pläne zu entwickeln, sonst könne das zu Problemen führen, die über viele Jahre nachwirken: „Zum zweiten Mal im Sommer einfach alle zu versetzen ohne Strategie, wie das aufzuholen sein wird, das wäre für viele Kinder katastrophal.“ Je jünger die Schüler sind, desto gravierender sei das Problem. Während Acht- oder Neuntklässler vergleichsweise bessere Chancen hätten, Versäumtes aufzuholen, macht er sich besonders große Sorgen um die Grundschüler: „Viele von denen haben kurz vor der Pandemie gerade lesen und schreiben gelernt und haben das jetzt teilweise wieder verlernt. Die kommen jetzt in die dritte Klasse, ohne das zu können.“ Das sei gerade für Kinder in prekären Lebenslagen schwerwiegend und wirke über viele Jahre nach. Für ihn ist klar: Die Leistungsheterogenität wird nach Corona weiter zunehmen.
Dirk Külker, Leiter der Chorweiler Grundschule Merianstraße, sieht das schon jetzt: „Die sozial schwächsten sind die großen Verlierer. Die Schere wird noch weiter auseinandergehen.“ Trotz riesiger Anstrengung seines Teams liegt die Teilnahmequote beim digitalen Unterricht je nach Klasse derzeit immer noch nur zwischen 50 und 80 Prozent. Probleme mit den digitalen Endgeräten, Familien ohne Internet: „Wer nicht in solchen Kontexten unterrichtet, macht sich kein Bild davon, wie schwierig das ist, alle im Boot zu halten.“
Um die Lücken zu schließen, haben Mafaalani und andere Bildungsexperten die Verlängerung des Schuljahres bis Weihnachten in die Debatte gebracht. „Dann hätte man ein halbes Jahr mehr, um den Stoff aufzuholen und hätte trotzdem keinen Raum- und Lehrermangel.“ Alle würden nur etwas länger bleiben. Dann könne man danach jedes Jahr das Schuljahr wieder einen Monat früher enden lassen und in ein paar Jahren wäre alles wieder normal. Das NRW-Schulministerium erteilt der Idee jedoch auf Anfrage eine klare Absage: Eine Verlängerung des Schuljahres bis Weihnachten sei organisatorisch nicht durchführbar.
Milliarden-Nachhilfeprogramm
Stattdessen plant Bundesbildungsministerin Anja Karliczek ein Nachhilfeprogramm mit einem Budget von einer Milliarde Euro für die Kernfächer. Der Lehrerverband fordert eine Aufstockung auf zwei Milliarden. Derzeit laufen dazu Verhandlungen mit den Ländern. Es sieht vor, Schülern mit großen Lernrückständen entsprechende Förderangebote zur Verfügung zu stellen. Bisherige Überlegungen gehen von zwei zusätzlichen Stunden pro Woche im gesamten kommenden Schuljahr aus. Unterrichten sollen etwa Lehramtsstudierende, pensionierte Lehrkräfte, Volkshochschulpersonal sowie externe Anbieter.
Das könnte Sie auch interessieren:
Zuvor sollen die Länder den jeweiligen genauen Bedarf allerdings über eine Lernstandserhebung ermitteln. Weil das Zeit kostet, soll das Nachhilfeprogramm erst nach den Sommerferien starten. Fachleute gehen davon aus, dass rund jedes Fünfte der elf Millionen Schulkinder diesen zusätzlichen Unterricht benötigt. In NRW hat Schulministerin Yvonne Gebauer zusätzlich dazu das Programm „Extra-Zeit zu Lernen in NRW“ gestartet. Mit 36 Millionen Euro sollen bis Sommer 2022 außerschulische Bildungs- und Betreuungsangebote gemacht werden, um die Auswirkungen der Pandemie auf Schüler gezielt auszugleichen.
Grundschulleiter Külker findet das grundsätzlich gut. Jede Unterstützung sei willkommen. Nur: Sie dürfe nicht wieder mit großem Verwaltungsaufwand und bürokratischen Bewilligungen daherkommen. Niedrigschwellig müsse es sein: „Die Lösung muss auf uns zukommen.“ Denn: Das System läuft am Anschlag. Mafaalani sieht das genauso: Die Schulen seien zu belastet. Die könnten solche Programme nicht aus dem laufenden Betrieb unterstützen. Die Leiterin des Herder-Gymnasiums, Barbara Grota, warnte ebenfalls vor zu viel Bürokratie. Wenn nach den Ferien erst mal in allen Fächern Lernstand und Diagnose betrieben werde, koste das viel Zeit. „Dabei weiß jeder Lehrer, welche drei bis vier Schüler aus seiner Lerngruppe besondere Förderung brauchen.“ Und zwar jetzt und nicht erst in einigen Monaten. Die, die schon vor der Pandemie Schwierigkeiten hatten, auf die müsse man jetzt besonders schauen.
„Keine verlorene Schülergeneration“
Im Übrigen warnt Grota – wie zahlreiche anderer ihrer Kollegen – vor zweierlei: Vor Panikmache und mangelnder Gelassenheit. „Erstens: Es ist unser Beruf, die Schüler da abzuholen, wo sie stehen. Und zweitens: Es gibt keine verlorene Schülergeneration.“ Rein fachlich sei im Distanzunterricht vielerorts der reguläre Stoff bewältigt worden. Fast alle hätten Medienkompetenz und Selbstständigkeit dazu gewonnen. „Was fehlt, ist Beziehung.“ Genau hier liege der völlig verschobene Fokus der Debatte, meint auch Oliver Schmitz, Schulleiter des Kaiserin-Theophanu-Gymnasiums in Kalk. Er warnt davor, einseitig auf die Lernlücken zu schauen und nur über Summen für Förderprogramme zu debattieren. „Viel wichtiger ist, erst einmal Lebenslücken zu schließen statt Lernlücken.“
Viele Schüler hätten psychische Erkrankungen entwickelt, Depressionen oder Ängste. Das, was der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte bundeweit konstatiert, sieht er auch an seiner Schule. „Allen fehlt das Lachen, der direkte Kontakt, die Freude, die Lebendigkeit.“ Viele hätten das Vertrauen in die Welt verloren. Das messe keine Lernstandserhebung. „Wir müssen erst mal alle die Schule genießen. Es darf jetzt nicht als erstes die Projektwoche gestrichen werden, weil Stoff nachgeholt werden muss.“
Was Schulleitungen sich für ihre Schüler vor allem wünschen ist Zeit: Gerade wenn die neuen Fünftklässler aus den Grundschulen in die weiterführenden Schulen kommen, die ja durch die Pandemie in Teilen deutlich geringere Kompetenzen haben werden als vorherige Jahrgänge. „Es braucht jetzt vor allem eine Entschlackung der Lehrpläne“, wünscht sich Schulleiter Schmitz. Die seien ja schon ohne Pandemie komplett überfrachtet.
Das Schulministerium hält dagegen eine Reduzierung der Inhalte für nicht erforderlich. Durch das System der Kernlernpläne gebe es ohnehin schon Spielräume bei der Gestaltung des Unterrichts. Diese sollten die Schulen jetzt „angemessen“ nutzen.