In der offenen Drogenszene wird Kokain zunehmend auch geraucht – mit gefährlichen Folgen für die Konsumenten.
Drogenszene auf dem NeumarktCrack in Köln auf dem Vormarsch – Experte macht streitbaren Vorschlag
Die Ausläufer des „Crack-Tsunamis“, den Drogenberater derzeit über so manche westdeutsche Großstadt hereinbrechen sehen, sind auf dem Kölner Neumarkt angekommen. An einem bewölkten Nachmittag Mitte August kauern zwölf Menschen auf dem Treppenabgang zur KVB-U-Bahn-Haltestelle Neumarkt, auf der Nordseite, gegenüber von Thalia, gleich unterhalb des provisorischen Containers der städtischen Streetworker. Außerhalb des Blickwinkels der polizeilichen Überwachungskameras.
Manche stehen, andere hocken, auf den Stufen und hantieren mit etwas, das sich im Vorübergehen nicht genau erkennen lässt. Fünf Minuten später sind alle verschwunden. Zurück bleiben Spuren von Drogenkonsum: Feuerzeuge, Reste von Alufolie und auch eine Pfeife, mit der zum Beispiel Crack geraucht werden kann.
Köln: Konsumenten stellen sich ihr Crack selbst her
„Crack war bisher ein lokales Phänomen in Bremen, Hannover und vor allem in Hamburg und Frankfurt“, sagt Daniel Deimel, Suchtforscher von der Katholischen Hochschule NRW in Aachen. Doch zunehmend verbreitet sich die Droge auch in NRW. In einem großen Drogenkonsumraum der Aidshilfe in Dortmund etwa wurden 2015 noch 61 so genannte inhalative Konsumvorgänge von Kokain registriert – also Crack, eine rauchbare Sonderform von Kokain. 2021, sechs Jahre später, waren es 7316 Vorgänge. Und der Trend hält an. Steigende Zahlen beobachten auch andere Konsumräume im Land, auch in Köln.
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Belastbare Zahlen, wie viele Menschen in der Stadt abhängig von Crack sind, gibt es nicht. Längst wird die gefährliche Droge auch unkontrolliert im öffentlichen Straßenraum konsumiert. Bei Süchtigen auf dem Neumarkt etwa findet die Polizei bei Durchsuchungen immer häufiger Kaisernatron – eine beliebte Zutat für die Herstellung von Crack.
In Hochburgen wie Frankfurt oder Hamburg wird Crack in Form kleiner Klumpen schon als fertiges Produkt verkauft. „Die Leute kaufen die Steine, rauchen sie und legen sofort nach“, sagt Forscher Daniel Deimel. „Das gibt es in Köln in dieser hochfrequenten Form nicht. Auch Steine werden hier nicht verkauft, die Konsumenten bereiten sich das Crack vor allem selbst zu.“
Crack ist chemisch eng mit Kokain verwandt, fast identisch. Kokain ist der pulvrige Extrakt der Kokapflanze und wird in der Regel geschnupft oder injiziert. Kocht man Kokainpulver mit Wasser und zum Beispiel Speisenatron auf, lässt das Gemisch abkühlen und trocknen, bleiben kleine gelbliche oder rosafarbene Klumpen übrig, die so genannten Steine. Sie werden in einer Pfeife angezündet und geraucht. Beim Verdampfen geben die Klumpen knackende Geräusche von sich, auf englisch „to crackle“ – Crack.
Mögliche Folgen von Crack-Konsum: Erschöpfung, Panik, Wahn
Die euphorisierende Wirkung setzt fast schlagartig ein. Über die Lunge nimmt der Körper das Kokain wesentlich schneller auf als beim Schnupfen über die Nasenschleimhäute. Nach fünf bis zehn Sekunden erreichen die Moleküle die Nervenzellen des Gehirns. Der Konsument fühlt sich energiegeladen, hellwach, selbstbewusst. Der Rausch ist heftig, aber kurz. Nach zehn bis 15 Minuten lässt die Wirkung nach, das Hochgefühl kehrt sich abrupt ins Gegenteil, den so genannten „Crash“. Folgen können sein: totale Erschöpfung, Verwirrtheit, Panik, Wahnvorstellungen.
Um sich wieder hochzupushen, wollen Süchtige den stimulierenden Effekt so schnell wie möglich wiederholen. Das macht Crack zu einer der Drogen mit dem höchsten Suchtpotenzial. Wer abhängig ist, hat bald nur noch ein Ziel: sich so schnell wie möglich die nächste Dosis zu verabreichen. Experten sprechen von „Binge“: Im Extremfall wird das Verlangen nach Crack so stark, dass der Abhängige alles andere vernachlässigt. Er isst nicht mehr, schläft nicht mehr, kommuniziert nicht mehr. Will nur noch konsumieren. 10-mal am Tag, 20-mal, 30-mal. Drogenberater berichten von Schwerstabhängigen, die 50 Crackpfeifen am Tag rauchen.
Während Kokain mitunter als Statussymbol gehobener Schichten gilt, haftet Crack das Image einer Arme-Menschen-Droge an. Wer süchtig ist, spricht auch nicht gern von „Crack“, lieber von „Weißes“. Das klingt nicht so schmutzig, nicht so kaputt. Dabei ist gerauchtes Kokain genau das: zerstörerisch. Zu den Langzeitfolgen gehören schwere Herz-, Leber- und Nierenschäden. Die Zähne faulen, der Appetit lässt nach, Husten und Kurzatmigkeit sind typische Symptome. Fortwährender täglicher Konsum kann Depressionen und Psychosen hervorrufen.
Weil der europäische Schwarzmarkt vor allem über die Häfen in Rotterdam und Amsterdam seit einiger Zeit regelrecht überschwemmt wird mit hochreinem Kokain aus Südamerika, ist der Stoff fast überall verfügbar und billig. Aus einem Gramm Kokainpulver (Straßenverkaufswert ungefähr 50 Euro) lassen sich ungefähr zehn Einheiten Crack herstellen.
Anders als etwa in Frankfurt, wo Crack-Süchtige am Bahnhof mit heftigen Psychosen und Ausfallerscheinungen auffallen, mitunter auch aggressiv gegen Einsatzkräfte, Sozialarbeiter oder Passanten vorgehen, sei das in Köln so nicht zu beobachten, berichtet Polizeisprecher Christoph Gilles. „Das ist uns in dieser Form hier noch nicht aufgefallen.“ Auch ein Drogenfahnder bestätigt, dass gerade die Szene auf dem Neumarkt überwiegend friedlich und gelassen auf Kontrollen, Durchsuchungen und Festnahmen reagiere.
Die Bilder sozialer Verelendung gerade auf dem Neumarkt sind allerdings allgegenwärtig. Forscher Daniel Deimel fordert, die Hilfestrukturen für Crack-Abhängige müssten „feinjustiert“, Raucherplätze in den Drogenkonsumräumen ausgebaut werden. „Vor dieser Herausforderung stehen alle Städte. Man muss genau sehen: Welche Bedarfe haben Crack-Konsumenten?“
Um das Erscheinungsbild im öffentlichen Raum zu verbessern, bringt der Wissenschaftler einen Ansatz ins Spiel, der für Diskussionen sorgen dürfte: „Wenn man ernsthaft die Situation im öffentlichen Raum verbessern will“, sagt Deimel, „muss man darüber nachdenken, den Ameisenhandel juristisch zu ermöglichen. Da reden wir dann nicht nur über Köln und den Neumarkt, sondern das ist Bundespolitik.“
Drogenreport Köln 2023: Lesen Sie hier alle Reportagen und Hintergründe.
In der Schweiz etwa werde der Ameisenhandel, also die Rauschgiftdeals auf der untersten Stufe, in den Drogenkonsumräumen toleriert. „Der Effekt ist unter anderem eine Verlagerung der Szene aus dem öffentlichen Raum hin zu Orten, wo auch der Konsum stattfindet, Drogenkonsumräume zum Beispiel“, sagt Deimel. In Deutschland dagegen ist der Handel auch in Konsumräumen gesetzlich verboten.
Bei Verstößen machen sich die Betreiber unter Umständen strafbar. Auch der Spritzen- oder Pfeifentausch ist untersagt. Das aber widerspricht der Lebenswirklichkeit der Süchtigen; im öffentlichen Raum ist das Herumreichen von Crack-Pfeifen gang und gäbe.
Eines jedenfalls sei sicher, sagt Deimel: Mit Verboten und Verbannung Schwerstabhängiger aus den Städten komme man nicht weiter. „Das hat noch nie irgendwo zu einer Verbesserung geführt.“ Es sei utopisch zu glauben, mit Konsumräumen und anderen Suchthilfeeinrichtungen werde es irgendwann keine Drogenszene mehr geben. „Die wird es immer geben.“