Seit zehn Jahren gibt es ein von Pfarrer von Franz Meurer und Psychiater Manfred Lütz initiiertes Ausbildungsmodell für Menschen mit Lernbeeinträchtigung.
„Der Moment“Kölnerin ging zur Förderschule – heute ist sie Führungskraft im Seniorenheim
Die Antwort kommt schneller als die Frage, was sie wohl ohne die Fachpraktikerinnen-Ausbildung heute machen würde. „Bürgergeld“, sagt Nadine Schmidt, „ich wäre wahrscheinlich versackt und würde Bürgergeld bekommen.“ Nachdenkpause. „Ganz sicher sogar.“ Warum so sicher? „Weil ich an mir gezweifelt habe und oft aufgeben wollte. Für eine Zeitarbeitsfirma hatte ich vorher in der Pflege gearbeitet. Das hätte ich auf Dauer aber nicht geschafft, das war zu hart für mich.“
Nadine Schmidt, geflochtene Zöpfe, neugieriger Blick, sitzt in einem Besprechungsraum des Seniorenhauses Heilige Dreikönige in Ehrenfeld, als Erstes fragt sie nach den Wünschen des Gastes, Getränk, Snack, ob alles so passe. Gleich ist klar: Diese freundliche Frau ist es gewöhnt, sich nach den Wünschen Anderer zu richten.
Die 32-jährige Kölnerin ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Hauswirtschaft in dem Seniorenheim. Wenn ihre Chefin Petra Leinen im Urlaub oder krank ist, hat sie die Verantwortung für 13 Mitarbeitende. Bestellt Essen, kümmert sich um den Dienstplan, koordiniert das Team, kümmert sich, wenn die Kaffeemaschine kaputt ist oder neues Reinigungsmittel bestellt werden muss. „Dass es dazu gekommen ist, dass ich sogar eine Führungsaufgabe habe, ist ein kleines Wunder“, sagt sie. „Ich bin unendlich dankbar, dass mein Leben durch die Ausbildung so eine Wendung bekommen hat.“
Nadine Schmidt ist auf eine Förderschule gegangen, sie hat eine Lernbeeinträchtigung. Heute kann sie frei davon erzählen. „Rechnen konnte ich gar nicht, das habe ich einfach nicht kapiert“, sagt sie, „aber auch in anderen Bereichen ist mir das Lernen schwergefallen.“ Zum einen, weil sie immer störrisch gewesen sei, „eine kleine Rebellin, die als Jugendliche keine Lust hatte zu lernen“; zum anderen, „weil ich einiges einfach nicht verstanden habe“. Sie lacht. Heute kann sie das. „Ich kann inzwischen frei darüber reden, dass ich auf einer Förderschule war und nicht so gut gelernt habe. Und sage jedem, der auch dort ist: Zieh es durch, mach weiter, glaub an dich. Es gehen neue Türen auf.“
Als Kind sei es härter gewesen. „Die geht zur Sonderschule, die ist blöde, solche Sprüche gab es da schon“, erinnert sie sich. Auch die Vergleiche in der Familie seien hart gewesen. „Ein Neffe und eine Nichte sind zum Gymnasium gegangen.“ Was macht das mit einer Kinderseele? „Es ist nicht schön, Kinder können brutal sein“, sagt Nadine Schmidt. „Aber man muss da durch.“
Auf die Fachpraktiker-Ausbildung für Förderschülerinnen und Förderschüler des Sozialverbandes In Via stieß sie vor zehn Jahren zufällig. Es war der Moment, der ihrem Leben eine völlig neue Richtung gab. „Meine Schwester hat mir einen Zeitungsartikel mitgebracht und gefragt, ob das nichts für mich wäre.“ Der Kölner Sozialpfarrer Franz Meurer hatte das bundesweit einzigartige Projekt zusammen mit dem Psychiater und Theologen Manfred Lütz initiiert. Junge Menschen mit Lernbeeinträchtigung oder anderen Förderbedarfen sollten über eine spezielle Ausbildung in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden.
Köln: Fachpraktiker-Ausbildung gegen den Fachkräftemangel
Partner wie die Agentur für Arbeit, IHKs, Berufsschulen und viele Kölner Betriebe waren angetan von der Idee: schließlich gab es schon damals in Behinderten-, Alten- und Pflegeeinrichtungen Fachkräftemangel. Die jungen Menschen sollten vor allem mit alten Menschen lesen, lachen und Gespräche führen, Spazierengehen, Besorgungen machen und im Alltag helfen. Inzwischen haben mehr als 350 junge Menschen die Ausbildung abgeschlossen und stehen im Berufsleben. Diese Woche feiert die Kölner Initiative ihr zehnjähriges Bestehen.
Nadine Schmidt gehört zum ersten Jahrgang des Lehrberufs „Fachpraktiker*innen Service in sozialen Einrichtungen“, deren schulischer Teil etwas leichter ist als bei herkömmlichen Ausbildungen. Am 1. September 2014 fing sie in der Ehrenfelder Einrichtung an. Dass sie zehn Jahre später Stellvertretende Leiterin des Hauswirtschaft-Bereichs ist, habe sie vor allem zwei Menschen zu verdanken: „Meinem Mann, der mich immer wieder motiviert hat, weiterzumachen, und meiner Vorgesetzten Petra Leinen, der besten Chefin der Welt.“
In den ersten Monaten im Seniorenhaus sei „die Rebellin in ihr hochgekommen“. Sie habe viel putzen müssen, eine normale Aufgabe im Hauswirtschaftsbereich, „aber der störrischen Nadine ging durch den Kopf: Bist Du nur zum Putzen hier? Dann suchst Du Dir was Anderes!“ Ihre Chefin habe die Rebellin zum Glück immer wieder eingefangen: „Es brauchte ein bisschen Geduld“, sagt Petra Leinen, bei der Ausbildung habe man es „mit Menschen zu tun, die schon einige Rückschläge erlebt haben.“ Einigen falle es schwer, etwas Angefangenes durchzuhalten. Leinen bestärkte ihre neu Auszubildende, sah, wie freundlich und zugewandt Nadine Schmidt mit den alten Menschen umging, wie zupackend sie war.
Ungewöhnliche Geschichte: Von der Förderschule zur Führungskraft
„Frau Leinen und mein Mann haben mir immer wieder eingetrichtert: Das ist eine große Chance für Dich. Vielleicht Deine letzte!“ Immerhin sei sie schon 22 gewesen. Irgendwann habe es „Klick gemacht. Ich habe kapiert: Du musst Dich jetzt beweisen, wenn Du es schaffen willst. Du lässt Deine privaten Sorgen zu Hause und machst Deine Arbeit.“ Sie machte weiter. Lernte für die Prüfungen, schloss die Ausbildung mit der Gesamtnote zwei ab.
Einen Rückschlag gab es trotzdem wieder: Nach der Ausbildung erhielt Schmidt einen Zeitvertrag, der nach einem Jahr nicht verlängert wurde. Sie wechselte in ein anderes Seniorenheim, in dem sie nicht glücklich wurde. Als in Ehrenfeld eine halbe Stelle Schwangerschaftsvertretung gesucht wurde, bewarb sie sich. „Und habe jeden Dienst zusätzlich übernommen, den ich kriegen konnte.“ Aus der halben wurde eine Dreiviertelstelle, schließlich eine volle.
Vor zwei Jahren dann die Frage ihrer Chefin: „Kannst Du Dir vorstellen, meine Vertreterin zu werden?“ „Spontan habe ich geantwortet: Nein! Kann ich nicht! Zu viel Verantwortung!“ Dann habe sie sich erinnert, was sie in den zurückliegenden Jahren geschafft hatte. „Also habe ich zugesagt.“ Für die ersten Vertretungsdienste habe sie sich „alles aufgeschrieben“ – Bestellungen, Dienstplan überprüfen, Leute einteilen. „Ich hatte Bammel, immerhin sind einige der Kolleginnen über 40 und sehr erfahren.“ Das Team sei dann super gewesen, ihre Chefin habe ihr wie immer geholfen. „Ich habe es geschafft“, sagt Nadine Schmidt. „Und liebe meine Arbeit so sehr, wie ich es nicht beschreiben kann.“