Ein Geflüchtetenlager an der polnisch-ukrainischen Grenze in Przemysl. Aus diesem Ort wurde ein Großteil der 22 Ukrainerinnen und Ukrainer abgeholt.
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Die Bonner Psychologin Veronica Offermann ist gemeinsam mit sechs Helfern an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren.
Dort hat die Gruppe 22 Menschen aus dem Krieg nach Köln geholt. Und ist auf die Abgründe gestoßen, die der Krieg produziert.
Wir haben die Reise aus Sicht der Psychologin rekonstruiert.
Köln – Am Freitagmittag hat Veronica Offermann ihre Freunde getroffen. Es war der 19. März. „Ich habe mich ordentlich von allen verabschiedet, habe meinen Freunden tschüss gesagt. Weil ich weiß: Das ist so eine Zeit, da kann alles passieren“, sagt sie. Was sie tue, sei mutig, haben ihre Freunde gesagt. Sie wisse nicht, was daran mutig sein soll, sagt sie. Es sei das Mindeste.
Am Freitagabend ist Veronica Offermann gemeinsam mit sechs weiteren Freiwilligen aufgebrochen, um an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren. In einem Linienbus. Geflüchtete aus dem Kriegsgebiet nach Köln bringen, das war ihr Ziel. Auf wen sie treffen würden, wussten sie nicht. Vier Tage zuvor hatte Offermann von einer Freundin erfahren, dass noch eine Dolmetscherin gebraucht werde. Die beiden, die beim letzten Mal mitgefahren waren, hatten sich auf der Reise mit dem Coronavirus infiziert. Sie sagte zu.
Ukrainische Psychologin: „Ich war wie im Krieg, ohne da zu sein“
Veronica Offermann ist eine ukrainische Psychologin, lebt in Bonn, ist selbst vor 20 Jahren nach Deutschland ausgewandert. Die erste Kriegswoche war die schlimmste, sagt sie.
„Ich war wie im Krieg, ohne da zu sein.“ Ihren Freunden vor Ort sei es in der ersten Wochen besser ergangen. Sie hatten sich. Sie waren da, sie konnten etwas ausrichten, zumindest davon überzeugt sein. Veronica Offermann nicht. Jetzt schon.
Kölner KVB-Fahrer hat Fahrt an die Grenze organisiert
Organisiert hatte die Aktion Wolfgang Winterscheid, Busfahrer aus Köln. Sein spontan eingereichter Urlaub wurde nach einigem Hin und Her von der KVB genehmigt. Wäre der Urlaub nicht genehmigt worden, wäre er dennoch gefahren, sagt er. Ein Kollege, der mitfahren wollte, durfte offenbar keinen Urlaub nehmen. Die KVB äußerte sich auf Anfrage zurückhaltend und teilte mit: „Die Kollegen, die sich in dieser Weise ehrenamtlich engagieren, bekommen frei, wenn dadurch betriebliche Belange nicht tangiert oder eingeschränkt werden.“
Die Bonner Psychologin Veronica Offermann.
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Für den zweiten KVB-Fahrer musste ein Ersatzfahrer einspringen. Vor seiner ersten Fahrt an die Grenze hatte er nach Leihangeboten für Linienbusse gesucht, 8500 Euro für ein paar Tage, das war ein Angebot. Trotz der vielen Spenden unbezahlbar. Dann meldete sich das Unternehmen Weinzierl: Ihr könnt einen Bus haben, unentgeltlich, Sprit zahlen wir auch. Für die zweite Reise zahlte Winterscheid mit Spendengeldern den Sprit selbst, den Bus bekam er erneut gestellt.
Ohne eine Frau als Dolmetscherin wäre der Bus nicht losgefahren
Voll war der Wagen schon auf dem Hinweg. Mit Lebensmitteln, Spielzeug, mit Dingen, die an der Grenze gebraucht werden. Drei Fahrer, zwei Dolmetscherinnen, ein Polizist, ein Helfer.
Hinfahrt. Die sieben kommen schnell durch, sehr schnell, kaum Pausen, kaum Schlaf. Am Samstagnachmittag sind sie in Krakau, schlafen eine Nacht im Hotel. „Wir brauchten eine Pause, weil wir wussten, dass wir von Freitag auf Samstag und von Sonntag auf Montag nicht schlafen würden.“
Ohne eine Frau als Dolmetscherin wäre der Bus nicht losgefahren. Ohne Frauen ist es schwer, an der Grenze Vertrauen aufzubauen. Es sind Menschenhändler unterwegs, Verbrecher aller Art, die das Elend der Ukrainerinnen schäbig ausnutzen wollen. Vertrauen ist die entscheidende Währung und Frauen werden nicht aus den improvisierten Grenzlagern entlassen, wenn es an Vertrauen fehlt.
Nach Köln oder zurück in den Krieg
Sonntagmittag. Ein Mädchen, 15 Jahre alt, war mit ihrer älteren Begleiterin schon angemeldet. An einem Hotel trifft Offermann auf eine Frau mit ihren kranken Zwillingen, keine zwei Jahre alt. Auch die Oma der kleinen Kinder war mit. Alle auf der Suche; nur wonach, das war nicht ganz klar. „Die wollten zuerst nur einsteigen, um irgendwie zum Bahnhof zu fahren“, sagt Offermann. Nach der letzten Übernachtung hatten sie kein Geld mehr. Sie wollten wieder nach Hause, sagt Offermann.
Nach Hause? „Wie sie nach Hause gekommen wären, weiß ich nicht. Ob sie noch ein Zuhause hat, konnte sie nicht sagen. Sie waren in einem miserablen Zustand.“ Die Gefahr war sehr groß, dass sie von dem Hotel in ein Zwischenlager am Bahnhof gekommen wären, sagt Offermann. „Die Oma wollte unbedingt mitkommen.“ Offermann erklärte, was sie in Köln erwarten würde. „Bei mir entstanden Gefühle: Habe ich die überredet?“, sagt Offermann. „Ich habe die nicht überredet. Ich habe den status quo aufgezeigt und unsere Option. Und unsere war scheinbar besser. Letztendlich sind sie mitgekommen.“ Die Mutter der Zwillinge wollte nicht mit, kaum habe sie es ertragen, ihre Heimat zu verlassen, wirklich zu verlassen. Fast wären sie an einem polnischen Bahnhof wieder ausgestiegen, um nach Hause zu fahren.
„Was ist da, was ist da? Die schießen, die schießen“
Die Oma hat die Zwillinge getragen, erzählt Offermann. „Was ist da, was ist da? Die schießen, die schießen“, habe die Oma einmal gesagt. „Ich habe die Hand auf sie gelegt und gesagt: Wir stecken im Krieg, das verstehe ich“, erzählt Offermann. Mehr habe sie nicht sagen können über den Krieg. „Es gibt darüber gar nichts zu sagen.“
Dann am Grenzübergang. Der Lkw passt wenige Kilometer zuvor nicht unter einer Unterführung durch. Mit einem mitgereisten Polizisten („Der hat an der Grenze kein Wort verstanden, aber er stand mir zur Seite“) trifft Veronica Offermann auf Ruslan, den sie schon vorher kennengelernt hat. Hier, am Grenzübergang, kennt ihn jeder. Ruslan ist ein Ukrainer, der in Polen arbeitet. Als der Krieg begann, ist er mit seinem Bruder in Polen geblieben, um hier Leben zu retten. „Das war ein Supernetter“, sagt Offermann. „Wir haben ukrainisch gesprochen und uns sofort umarmt.“ Mit den freiwilligen Polen sei es schwieriger, sagt Offermann, weil sie immer sehr kurz da seien, oft nach wenigen Tagen wieder weg. Ruslan war immer da. „Für uns war es wirklich sehr hilfreich, dass wir den permanenten Ansprechpartner hatten.“
Frau mit schweren Verletzungen konnte nicht mitgenommen werden
Umgeben von Leuten stand sie dort, sagt Offermann, „alle wollten etwas von mir“. Dann wird Offermann zittrig, als sie weitererzählt. „Wir konnten eine Familie nicht mitnehmen, die sehr gerne mit wollte.“ Ein älterer Mann mit seiner Schwiegertochter. Sie kamen aus Charkiw, bei der russischen Bombardierung der Stadt wurde der Schwiegertochter das Bein gebrochen. „Mit diesem gebrochenen Bein – ich konnte mir sehr gut vorstellen, was mit dem Bein passiert ist – wurde sie so oft geschleppt und getragen“, sagt Offermann.
Zur Grenze gefahren wurde sie im Sitzen, musste dort sofort medizinisch versorgt werden. „Ich wusste, dass ich die Verantwortung für diese Frau nicht tragen darf“, sagt Offermann. Auch mit viel Platz im Bus wäre die Gefahr einer Thrombose oder einer Wundentzündung zu groß gewesen, sagt sie.
„Du hast das Gefühl, du gibst ihnen eine Option.“
Der Opa, wie Offermann ihn nennt, war ganz still. „Er hat ganz leise gesprochen, hat nur Fragen gestellt, war ganz höflich.“ Aber es sei völlig klar gewesen, dass er in Not war. Drei Tage müsse sie noch liegen, fünf Tage ihre Medikamente nehmen, dann könnte die Schwiegertochter los, sagt der Opa. „Ich habe ihm nur gesagt: Leider bin ich in fünf Tagen nicht mehr da. Wer da sein wird, kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ Er habe sich bedankt für die Klarheit.
Eine andere Familie habe nur darauf gewartet, dass sie jemand abholt. „Ich glaube, denen war egal wohin, das war mein Gefühl. Die haben gelächelt“, sagt Offermann. Und sind eingestiegen. Dann trifft Offermann auf ein Mädchen. „Gestern habe ich dreimal nein gesagt“, habe sie erzählt, „aber heute komme ich mit.“ Sie kam aus dem Ort, in dem Offermann selbst aufgewachsen ist. Ihr vertraute sie. „Das ist ein Gewinn, weil du das Gefühl hast, du gibst ihnen eine Option.“
Einige haben überlegt, wieder nach Hause zu fahren. Lieber zu den Bomben, die sie kennen, zurück in die Heimat, die ihnen etwas bedeutet, als ins Ungewisse. „Dieses Volk schreibt eine eigene Geschichte. Viele wollen zurück, viele wollen jetzt schon zurück“, sagt Offermann. Doch 22 Menschen haben sie nach Köln mitgenommen, davon 16 Kinder. Still sei es auf der Rückfahrt gewesen, sagt Offermann. „Die Leute wollten gar nicht viel Pause machen. Die wollten durch. Die wollten ankommen.“ Über den Krieg wollte niemand reden, sagt Offermann. Sie habe sich einzeln zu den Frauen gesetzt, dann haben sie gesprochen, sagt sie. Teenager wollten den Bus an der Tankstelle nicht verlassen, haben erst gemerkt, dass sie Hunger hatten, als Offermann ihnen Brötchen in die Hand drückte. Manche haben vor dieser Reise in ein neues Leben nie ihren Ort verlassen.
„Mein Sumpf ist zwar ein Sumpf, aber es ist mein Sumpf“
Nur zwei Plätze seien vorbereitet, erfährt die Gruppe. Es wird telefoniert. In Absprache mit der Stadt kommen alle in einem Porzer Hotel unter, eine Familie dank großzügiger Spenden sogar in einer eigenen Wohnung.
Kurz vor dem Abschied öffnet sich die Mutter der beiden kranken Zwillinge das erste Mal, sagt Offermann. „Vorher war sie total verbittert.“ Erst jetzt habe sie gemerkt: Die wollen mir nichts Böses. Sie wollte ihr Land nicht verlassen. „Und sie fühlte sich arm, fühlte sich wie eine Bettlerin. Man muss auch aushalten, in diese Augen zu schauen – und nicht zu sagen: Du hast hier alles gekriegt und ich weiß nicht was du willst“, sagt Offermann. Am Ende haben sie zusammen geweint. Offermann erzählte ihr davon, wie sie vor 20 Jahren damit haderte, die Ukraine zu verlassen. „Mein Sumpf ist zwar ein Sumpf, aber es ist mein Sumpf“, habe sie der Mutter erzählt. Sie habe gesagt: Ja! „Und ich habe gesagt: Sie gehen dahin zurück. Aber jetzt, für Ihre Kinder, bleiben Sie hier.“ Und dann blieb sie alleine, das war hart, sagt Offermann. „Für mich weniger als für sie. Ich gehe mit einem guten Gefühl, weil ich weiß, dass ich mein Bestes gegeben habe und weil ich Lächeln gesehen habe. Sie sind alleine.“
Ankunft in Köln: Gut ist nichts, aber vieles ist besser
„Die kann man mit keinem Geld der Welt bezahlen“, sagt Wolfgang Winterscheid über Veronica Offermann, die ihn auf der Reise tief beeindruckt habe. „Diese Frau ist unfassbar tough.“ Ihre Reise an die Grenze hat Biografien verändert. In welche Richtung, das weiß man nicht, aber im Krieg sind die 22 Menschen jetzt nicht mehr.
So gut es geht bleiben Offermann und Winterscheid mit den Geflüchteten in Kontakt. Gut ist nichts, aber vieles ist jetzt besser. Eine krebskranke Frau bringt Winterscheid nun zur Behandlung in die Uniklinik. Die Oma der kranken Zwillinge spricht am Dienstag mit Offermann, sagt, sie wolle zurück zu den Bomben. Und meint damit wohl ihre Heimat oder das, was davon jetzt noch übrig ist. Köln ist noch keine Heimat, aber hier gibt es keine Bomben. Und irgendwann vielleicht wieder eine Perspektive, eine Heimat ohne Krieg, jetzt zumindest die Hoffnung darauf.