Köln – Das Fax aus dem Rhein-Erft-Kreis, das am späten Nachmittag des 9. September 1977 bei der Polizei Köln am Waidmarkt eingeht, bietet den Fahndern die einmalige Chance, Hanns Martin Schleyer lebend zu befreien. Seit vier Tagen befindet sich der damalige Arbeitgeberpräsident an jenem Freitag schon in der Hand von Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) – nur wo, das weiß zu diesem Zeitpunkt niemand.
Ein paar Beamte der Polizeiwache in Erftstadt jedoch haben den richtigen Riecher. Sie stellen eine Liste von acht „einschlägig verdächtigen Objekten“ in ihrer Region zusammen, die sich als Versteck eignen könnten, und faxen sie als „Fernschreiben Nr. 827“ nach Köln. Darunter ein Hochhaus in Liblar, Zum Renngraben 8, dritter Stock, Wohnung 104 – Volltreffer. Unter dieser Anschrift befindet sich tatsächlich das „Volksgefängnis“. So nennt die RAF das Appartement, das sie unter klandestinen Umständen angemietet hat. Allerdings: Fax 827 versackt bei der Polizei. Die Spur nach Liblar wird nicht verfolgt, Schleyer eine Woche später von den Entführern nach Den Haag verschleppt und am 18. Oktober 1977 ermordet.
Rätsel und vielleicht größte Ermittlungspanne
Auch heute noch, 44 Jahre später, ist unklar, wo das Fax seinerzeit abgeblieben ist. Der Vorgang gilt als eines der größten Rätsel und zugleich als vielleicht größte Ermittlungspanne der deutschen Kriminalgeschichte. Der langjährige „Spiegel“-Journalist Georg Bönisch und „Spiegel“-Redakteur Sven Röbel geben den Spekulationen jetzt neue Nahrung. In ihrem Buch „Fernschreiben 827 – Der Fall Schleyer, die RAF und die Stasi“ (Greven Verlag Köln, 208 Seiten, 18 Euro) gehen sie der These nach, ein Spitzel könnte das Fax unbemerkt aussortiert haben, um DDR-Agenten zu schützen.
Erftstadt galt nach Recherche der Autoren seinerzeit als Hotspot für die Spionageprofis der DDR. Ein Ehepaar, das für die Stasi gearbeitet hatte, wohnte bis 1976 sogar in eben jenem Hochhaus, in dem die RAF Schleyer ein Jahr später elf Tage lang versteckt hielt. Musste die DDR befürchten, dass ihre Agenten durch die Fahndungs- und Durchsuchungsmaßnahmen der westdeutschen Polizei im Zuge der Schleyer-Entführung enttarnt werden könnten? Fakt ist, dass Ost-Berlin seine Spionage- und Abhöraktivitäten vor allem im Köln-Bonner Raum im Herbst 1977 deutlich erhöhte.
Stasi soll starkes Motiv gehabt haben
Reichte der Arm der Stasi womöglich bis in den Koordinierungsstab der Polizei, die den Fall Schleyer aufklären sollte? Die Autoren sind überzeugt: Ein starkes Motiv, das Fernschreiben 827 verschwinden zu lassen, auf dem allein fünf Adressen in Erftstadt aufgelistet waren, habe die Stasi jedenfalls gehabt.
Konrad Schmidt ist der Letzte, der das Fax am 9. September 1977 im Polizeipräsidium am Waidmarkt nachweislich in der Hand gehalten hat. Schmidt arbeitete damals beim Kommissariat 14, dem Staatsschutz, ein paar Etagen über den Büros der Sonderkommission 77 – jenem Team aus Polizei und Bundeskriminalamt (BKA), das die Ermittlungen im Fall Schleyer führte. Die Soko hatte keinen eigenen Fernschreiber. Das nächste Gerät stand in den Räumen des 14. Kommissariats.
Konrad Schmidt hatte an jenem Abend die Aufgabe, alle Dokumente, die das Fax ausspuckte und die Hinweise auf den möglichen Aufenthaltsort der Geisel enthielten, bei der Soko 77 abzuliefern.
Brisanz nicht erkannt
Gegen 20.30 Uhr zieht er das Fernschreiben Nr. 827 aus dem Gerät. „Die Drittschrift habe ich vorschriftsgemäß bei uns abgeheftet, das Original und die Zweitschrift waren für die Soko zur weiteren Bearbeitung bestimmt“, erzählte Konrad Schmidt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor einer Weile. Wie brisant der Inhalt des Schreibens tatsächlich war, habe er nicht erkennen können. „Es stand ja nur die Adresse Zum Renngraben 8 darauf, es war nicht mehr als ein Hinweis unter vielen.“
Mit einem Stoß Papier fährt er im Aufzug runter in den Keller. Dort hat die Sonderkommission ein paar Räume bezogen. Das Original und die Zweitschrift von Fernschreiben 827 legt Konrad Schmidt einem BKA-Ermittler der Soko auf den Schreibtisch: „So ein Dicker mit Zigarre“, erinnert er sich. „Der sagte: Schmeiß da hin, zu den anderen.„ Das tut Schmidt. Von da an verliert sich die Spur.
Ausgerechnet verdächtige Adresse nicht weitergeleitet
Eine später eingesetzte Kommission, die die Ermittlungsfehler im Fall Schleyer untersuchen sollte, konnte noch rekonstruieren, dass die Soko das Fax zumindest registriert haben musste. Denn einen Teil des Dokuments leiteten die Ermittler an die BKA-Außenstelle nach Bonn weiter, ausgerechnet die verdächtigen Adressen aus Erftstadt allerdings nicht. „Die Ursache kann in einer falschen kriminalistischen Bewertung der Hinweise liegen“, notiert die Untersuchungskommission in ihrem Abschlussbericht. Oder darin, dass die Soko glaubte, eine andere Dienststelle werde die Adressen überprüfen.
Oder eben: Jemand ließ das Fax absichtlich verschwinden. Ein Stasi-Spitzel? Ob es je im Koordinierungsstab eine Agentin oder einen Agenten gab, der oder die heute namentlich benannt werden könne, sei unmöglich zu sagen, berichtet der Journalist Georg Bönisch. Einen sicheren Nachweis für ihre These haben die beiden Autoren nicht gefunden. „Eine finale Beweisführung kann es nicht geben“, sagt Bönisch. „Es sei denn, irgendwann taucht ein entsprechendes Papier auf.“
Autoren halten Beteiligung der Stasi für stichhaltige Erklärung
Da man aber im Bereich der „Hauptverwaltung Aufklärung“, also des Auslandsnachrichtendienstes der DDR im Ministerium für Staatssicherheit, so gut wie alles vernichtet habe, sei dies fast ausgeschlossen. Und dennoch ist der Journalist davon überzeugt, dass eine Beteiligung der Stasi die stichhaltigste Erklärung für das rätselhafte Verschwinden von Fernschreiben 827 liefert.
Schlamperei in der Behörde jedenfalls hält Bönisch für unwahrscheinlich: „In den Tagen 9., 10. und 11. September 1977 sind im Koordinierungsstab lediglich 30 Fernschreiben angekommen.“
In Erftstadt wartet man auf Feedback - vergeblich
Bei der örtlichen Polizei im Erftkreis jedenfalls erwartete man nach dem Versand des Faxes mit den verdächtigen Adressen ungeduldig ein Feedback aus Köln. Das aber blieb aus. „Wir haben uns die ganze Zeit gewundert, dass sich von der Soko und vom BKA niemand gemeldet hat“, berichtete der inzwischen verstorbene Erftkreis-Polizist Ferdinand Schmitt, der den Hinweis auf den Renngraben gab, 2007 dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Aber die hohen Herren, sagte Schmitt damals im Interview, „die dachten wohl: So ein kleener Schutzmann ...“
Schleyer, davon war Ferdinand Schmitt sein ganzes Leben überzeugt, hätte gerettet werden können. Einmal, erzählte er, sei er in seiner Verzweiflung sogar kurz davor gewesen, Schleyers Ehefrau anzurufen, um ihr zu sagen: „Ich weiß, wo ihr Mann ist.“