Abraham Lehrer„An Kölner Schulen wird »Du Jude« als Schimpfwort benutzt“
- Anfeindungen verstärken sich: Die Synagogen-Gemeinde Köln erhält immer wieder antisemitische Schmierbriefe.
- Im Interview spricht Abraham Lehrer, Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln, über offen vorgebrachten Antisemitismus, den Umgang mit diesem Thema an Schulen und die neugegründete jüdische Karnevalsgesellschaft.
Köln – Herr Lehrer, wie wird das Thema Antisemitismus in Köln in Ihrer Gemeinde wahrgenommen?
Es gibt in der jüdischen Gemeinde eine große Besorgnis. Egal wohin man kommt, wird heiß diskutiert, wie die aktuelle Situation einzuschätzen ist und ob wir auf dem Weg zu französischen Verhältnissen sind. Wir als Synagogen-Gemeinde versuchen, da kühl ran zu gehen. Aber man muss nüchtern konstatieren, dass sich unserer Wahrnehmung nach die Anfeindungen verstärkt haben und dass sie mit einem anderen Selbstbewusstsein vorgetragen werden.
Woran machen Sie das zum Beispiel fest?
Wir haben keine Registrierungsstelle. Die meisten antisemitischen Diskriminierungen im Alltag werden nicht offiziell gemeldet. Aber die Menschen erleben das und reden untereinander darüber. Wir als Synagogengemeinde erhalten immer wieder antisemitische Schmierbriefe. Früher kamen die anonym ohne Absender. Heute steht der Absender drauf. Wir haben seit ein paar Monaten einen neuen Rabbiner, der mit Bart und Kippa als Jude erkennbar ist. Er fuhr sehr gerne mit Bus und Bahn durch die Stadt und wollte erst von der Gemeinde kein Auto gestellt bekommen. Nach ein paar Monaten kam er zu uns und wollte doch ein Auto haben, weil er mehrmals im öffentlichen Raum angefeindet worden war.
Zur Person
Abraham Lehrer (64) ist Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Außerdem ist er Vorstandsvorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Im Hauptberuf leitet er ein Kölner Software-Unternehmen.
Abraham Lehrers Mutter Fela überlebte das Vernichtungslager Auschwitz, sein aus Warschau stammender Vater Isack floh während des Nationalsozialismus mehrfach aus Arbeitslagern. Abraham Lehrer wurde als zweites Kind des Ehepaars Lehrer in New York City in den USA geboren.
Im Frühjahr 1954 kehrte die Familie schließlich nach Deutschland zurück und siedelte sich in Köln an. Lehrer studierte Chemie und gründete 1988 die Ador EDV- und Software GmbH in Köln, deren Geschäftsführer er ist.
Wie sieht es in den Schulen und auf den Schulhöfen aus?
Die Zahl der jungen Menschen aus unserer Gemeinde, die von Anfeindungen berichten, steigt. Auch die Lehrer, die mit ihren Klassen unsere Synagoge besuchen und eine Führung wahrnehmen, geben uns entsprechende Rückmeldung. Da erzählen Lehrer, dass auf ihrem Schulhof das Wort „Du Jude“ als Schimpfwort benutzt wird, obwohl kein einziges jüdisches Kind die Schule besucht. Das finde ich schockierend und ich frage mich, wo kommt so etwas her. Das muss doch von Zuhause kommen...
Vielleicht ist es auch die Lust am Tabubruch. Früher hieß es „Du schwule Sau“, heute „Du Jude“ oder „Du Opfer“. Was denken Sie muss getan werden, um dieser Entwicklung zu begegnen?
An der Stelle sind alle aufgefordert, das sofort zu unterbinden und vor allem die Problematik nicht zu unterschätzen. Wir haben doch noch vor ein paar Jahren geglaubt, die paar Antisemiten, die es gibt, die sitzen in der Ecke. Und der Herr bewacht sie und passt auf, dass sie nichts Böses machen. Auf einmal stellen wir fest, dass das nicht so ist. Wir müssen alles auf den Prüfstand stellen sowie mit und in den Schulen arbeiten, sonst entgleitet uns diese Entwicklung auf den Schulhöfen.
Was heißt das konkret?
Wir haben als Zentralrat der Juden gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz eine Kommission gebildet, die Materialien für die Schule entwickelt. Ich kann nur hoffen, dass das flächendeckend an die Schulen weitergegeben wird, damit die Materialien an der Hand haben, dem Prozess entgegenzuwirken. Außerdem überprüfen wir in der Kommission bestehende Schulmaterialien auf antisemitische Stereotype. Wir haben schon Beispiele vorgelegt bekommen, da halten Sie nicht für denkbar, dass es sowas noch in einem deutschen Schulbuch gibt.
Neben dem Antisemitismus von rechts gibt es ja auch den muslimisch motivierten Antisemitismus. Der Psychologe und Islamexperte Ahmad Mansour hat daher im „Kölner Stadt-Anzeiger“ gefordert, Bildung zu diesem Thema nicht auf den Holocaust eng zu führen, sondern gerade muslimische Schüler differenziert über den Nahostkonflikt aufzuklären, da hier viel Unwissen herrscht und Verschwörungstheorien durchs Netz geistern, die die meisten Schüler kennen. Was halten Sie davon?
Wir würden das unterstützen, weil es absolut sinnvoll ist und eine wichtige Reaktion auf die Gesellschaft, wie sie sich hier entwickelt hat. Wichtig ist aber, neben den hier groß gewordenen muslimischen Kindern auch die Flüchtlinge in den Blick zu nehmen. Vor allem die, denen vielleicht die Integration in den Arbeitsmarkt nicht gelingt. Da müssen wir schauen, dass wir in Zukunft keine französischen Banlieue-Verhältnisse bekommen. Die Zahl der Stunden in den Integrationskursen ist konzipiert worden für europäische Flüchtlinge etwa aus dem ehemaligen Jugoslawien. Hier reden wir aber von arabischstämmigen Menschen, die eine ganz andere Kultur haben. Diese Kurse müssen angepasst werden in Dauer und Inhalt. Sonst werden wir bald ganz gefährliche Verhältnisse bekommen.
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Die Politik des Staates Israel beziehungsweise die der Regierung Benjamin Netanjahu steht hierzulande oft in der Kritik. Warum beziehen die jüdischen Verbände hier in Deutschland dazu keine Stellung?
Wir würden uns doch auch nicht freuen, wenn sich die israelischen Verbände hier in Deutschland etwa in die Antisemitismus-Debatte einmischen würden. Wir als Zentralrat der Juden in Deutschland gehören zu Deutschland – also mischen wir uns in Deutschland ein. Ganz davon abgesehen finde ich, dass im Hinblick auf Palästinenser und Israelis manchmal mit zweierlei Maß gemessen wird. Ich habe eine Raketen-Warn-App auf meinem Smartphone. Immer wenn eine Rakete auf Israel niedergeht, bekomme ich eine Nachricht und hänge mich dann per Skype an die Strippe, um zu hören, ob Verwandte von mir betroffen sind. Das ist unser Alltag.
Was ist denn für Sie legitime Israel-Kritik und wo beginnt Antisemitismus?
Man kann Kritik an der Regierung Netanjahu üben und sagen, dass man mit der Siedlungspolitik nicht einverstanden ist. Das ist kein Antisemitismus. Und diese Debatte findet ja auch in Israel selbst statt. Wenn man aber das Existenzrecht Israels in Frage stellt, wenn also Politik zur Grundsatzfrage wird, dann ist das Antisemitismus.
Oder wenn die Argumentation umschlägt in den Tenor „Wer so handelt, braucht sich ja nicht zu wundern“...
Genau das ist Antisemitismus: Wenn die Kritik an der Politik des Staates Israel als Legitimation benutzt wird, antisemitisch zu argumentieren. Das geht gar nicht.
Das beste Mittel, Vorurteile abzubauen, ist die Begegnung. Es gibt unter den Kölnern sehr großes Interesse am jüdischen Leben – was etwa die Resonanz auf die neu gegründete Karnevalsgesellschaft Kippa Köpp gezeigt hat. An dem Punkt stehen Sie als jüdische Gemeinde immer in dem Spannungsfeld zwischen mehr Sichtbarkeit und ausreichender Sicherheit.
Die Begegnung mit jüdischem Leben ist in der Tat der beste Weg. Deshalb führen wir 12.000 Menschen jährlich durch die Synagoge und gehen vor allem in Schulen. Aber als wir überlegt haben, in unserer Synagoge in der Roonstraße das koschere Restaurant aus dem Hinterhof nach vorne an die Straße zu legen, um es sichtbarer zu machen, wurde das aus Sicherheitsgründen sofort abgebügelt. Das ist eine sicherheitspolitische Entscheidung, und die Polizei ist da ganz klar in ihrer Einschätzung. Das Land hat uns auf Anraten der Polizei an der Synagoge eine neue Sicherheitsschleuse bezahlt, weil die alte nicht mehr dem Stand der Technik entsprach. Wenn die Kinder aus der Schule kommen, steht die Polizei gegenüber. Es gibt keine jüdische Veranstaltung, nicht mal ein Ferienlager ohne Polizeipräsenz. Das ist die Realität, und die Polizei sagt, ihr müsst damit leben.
Wie gehen denn die Kinder und Jugendlichen mit dieser Situation um?
Die werden ja damit groß. Überhaupt gehen die Jungen selbstbewusster mit ihrem Jüdisch-Sein um als die ältere Generation. Sie sehen sich selbstbewusst als Teil dieser deutschen Gesellschaft. Das hat die diesjährige Jewrovision, der große jüdische Deutsche Gesangs- und Tanzwettbewerb, schön deutlich gemacht. In der Kategorie „Video“ haben sich sechs von acht Wettbewerbsteams mit dem Thema Antisemitismus befasst. Der Gewinner war Düsseldorf mit dem Refrain: „Mein Koffer ist ausgepackt. Ich werde ihn nicht packen. Ich will hier leben. Nicht aufgeben. Das ist auch meine Stadt, mein Land, meine Heimat. Denn wir sind hier und wir bleiben hier.“ Das fasst das Selbstverständnis der Jungen sehr gut zusammen.