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Mutter appelliertKölnerin verliert lebensnotwendige Pflege wegen Gesetz, das Pflege verbessern soll

Lesezeit 4 Minuten

Das Gesetz, das seit Jahren in der Kritik steht, sei ein „Witz“, findet die besorgte Mutter. Nun reagiert Gesundheitsminister Lauterbach.

Lena Siekmann bekommt nicht genug Sauerstoff. Sie liegt in Seitenlage im Arm ihrer Mutter. Ihr Kopf hängt über einer Plastikschale, die den Speichel auffängt, der aus ihrem Mund tropft. „Sie hat eine Schluckstörung und kommt mit ihrem Sekret nicht klar“, erklärt ihre Mutter Anja. So verschluckt sie sich und hat Probleme zu atmen.

Einen Schlauch in Lenas Mund zu legen, um den Speichel abzusaugen, versucht ihre Mutter zu vermeiden – zu schmerzhaft. Durch physiotherapeutische Lagerungen fließt das Sekret von selbst heraus und Lena kann ihre Atmung stabilisieren.

Dellbrück: 20-jährige Kölnerin ist schwerstbehindert

Es ist eine von mehreren potenziell lebensbedrohlichen Situationen, mit denen Lena jeden Tag konfrontiert wird. Grund ist eine Tetraspastik, wodurch sie Arme und Beine nicht unter Kontrolle hat. Außerdem ist die Dellbrückerin blind und kann kaum hören. Worauf sie sich seit ihrer Frühgeburt vor 20 Jahren verlassen muss, ist ihre Nase und ihr Gespür: „Wenn sie eine Person riecht, die sie kennt, reagiert sie ruhig und mit einem Lächeln auf sie“, erklärt Anja Siekmann.

Es sei ein Wunder, dass sie ihre Tochter noch habe, sagt die 51-jährige Mutter: Bereits viermal habe sie Lena aus der Klinik zurückbekommen, mit dem Rat, sich auf das Schlimmste vorzubereiten. „Aber sie kriegt immer die Kurve. Das Pflegeteam hier stabilisiert sie immer wieder.“ Acht Pflegekräfte sind abwechselnd rund um die Uhr an Lenas Seite.

Gesetz erhöht Qualitätsanforderungen an Pflegekräfte

Doch Ende Mai kommt ein Brief der Krankenkasse, der ihnen den Boden unter Füßen wegzieht: Man werde die unbefristeten Verträge von zwei der acht Pflegekräfte im Team nicht weiter finanzieren. „Das hat uns von heute auf morgen das Pflegekonstrukt zerschossen“, sagt Siekmann. Hintergrund des Schreibens ist das „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz“ (IPReG) der gesetzlichen Krankenversicherungen.

Das vom Gesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) in die Wege geleitete und unter Karl Lauterbach (SPD) umgesetzte Gesetz sieht unter anderem vor, dass Pflegerinnen und Pfleger, die Menschen wie Lena Siekmann betreuen, ab dem 1. Juli 2024 mehr Qualifikationen als zuvor vorweisen müssen. Damit soll die Qualität der Pflege verbessert werden. Das Problem: Die Pflegekräfte mit den höheren Qualifikationen gibt es nicht. Der Grund: Fachkräftemangel.

Per se ist das Gesetz gar nicht schlecht, wenn nicht der Fachkräftemangel wäre
Thomas Koritz, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland

„Das Gesetz ist ein Witz“, findet Anja Siekmann, denn gleichzeitig dürfen die zwei Pflegehelferinnen nicht weiter arbeiten, die in ihren Augen „absolut qualifiziert“ sind: „An Lenas Verhalten können die Pfleger drohende Krisen erkennen.“ Eine Fähigkeit, die sie über zehn Jahre erlernen mussten.

Kritik von Interessensvertretern

„Das Gesetz wird von keinem sehr geliebt, außer von den Krankenkassen“, meint Thomas Koritz von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland. „Wir haben nur ein gewisses Budget in der Krankenverpflegung, klar. Das muss alles bezahlt werden.“

Eine Eins-zu-Eins-Versorgung, wie Lena Siekmann und viele andere in Deutschland sie brauchen, sei nun mal teuer, sagt Koritz. Doch die Qualität der Pflege würde sich durch IPReG nicht verbessern: „Per se ist das Gesetz gar nicht schlecht, wenn nicht der Fachkräftemangel wäre.“

Dem stimmt auch Jurist Sebastian Lemme vom „Selbst-Hilfe-Verband“ für Menschen mit Hirnschädigungen zu. Er sieht sogar einen Präzedenzfall: „Die Qualifikationssteigerung führt nicht zu einer höheren Qualität, sondern im Gegenteil: Sie führen im Ergebnis zu größeren Unsicherheiten in der Pflege. Frau Siekmanns Situation ist in der Hinsicht exemplarisch und dementsprechend mit einer gewissen Präzedenz versehen.“

Karl Lauterbach lenkt ein – vorübergehend

Auf den Druck der Betroffenen reagiert die Politik nun: In einem Schreiben an Versicherte teilte Gesundheitsminister Lauterbach mit, „dass Ihre Versorgung mit Außerklinischer Intensivpflege auch über den 1. Juli 2024 hinaus gewährleistet ist“. Alle Leistungen von Pflegediensten werden demnach „auf dem bislang vereinbarten Niveau vergütet“.

Die für Siekmann zuständige Techniker-Krankenkasse bestätigte auf Nachfrage, dass die Übergangslösung so lange gelte, bis sich die Krankenkassen und Pflegedienste auf einen neuen Vergütungsvertrag geeignet haben.

Für Anja Siekmann ist der Schaden jedoch bereits angerichtet: „Das gesamte Team wurde destabilisiert. Man braucht Jahre, um ein so stabiles Pflegeteam hinzukriegen.“ Der Pflegedienst habe bereits einer Helferin gekündigt, die andere bemühe sich nun um eine Fortbildung, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Bis das Team wieder vollzählig ist, muss die Mutter, die selbst eine Herzerkrankung hat, nun zwei Vollzeit-Pflegekräfte ersetzen.