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Jüdisches Leben in Köln„Antisemitismus ist ein altes Virus, eines der tödlichsten“

Lesezeit 9 Minuten
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Andrei Kovacs ist leitender Geschäftsführer des Vereins 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

  1. 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – dieser Geburtstag soll kommendes Jahr in Köln gefeiert werden. Das gefeierte Jahr ist allerdings auch so etwas wie die Geburtsstunde des Antisemitismus.
  2. Der Holocaust soll bei den Veranstaltungen nicht im Fokus stehen. Dabei ist der Umgang zwischen Juden und Deutschen bis heute herausfordernd. Bedrohungen und Antisemitismus erleben viele.
  3. Cheforganisator Andrei Kovacs spricht im Interview über die Planung dieses besonderen Events, seine persönlichen Erfahrungen als Jude und welche Chance wir haben, uns als Gemeinschaft zu begreifen.

Herr Kovacs, Sie sind Cheforganisator eines besonderen Geburtstags: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Nächsten Februar ist der Auftakt mit einem Festakt und vielen Staatsgästen in Köln geplant, der Bundespräsident und das gesamte Bundeskabinett sind eingeladen, viele hochrangige Gäste werden kommen. Das Jahr über gibt es in ganz Deutschland Hunderte Veranstaltungen. Wie lässt sich ein solches Projekt gerade planen?

Man kann sich unser kleines, fantastisches Team vorstellen wie ein Start up, das eine große Idee in kurzer Zeit zur Marktreife bringt. Durch die Krise müssen wir uns den Umständen anpassen und kalkulieren auch damit, dass es Verschiebungen geben könnte. Der Auftakt des Festjahres ist für den 21. Februar in Köln geplant, vom Bundespräsidenten gibt es bereits sehr positive Signale.

Und was ist, wenn es eine zweite oder dritte Corona-Welle gibt?

Wir haben den Vorteil, dass das Edikt von Kaiser Konstantin, in dem eine bestehende jüdische Gemeinde in Köln erwähnt wird, vom 11. Dezember 321 ist – der eigentliche Jahrestag ist also spät im nächsten Jahr.

Können Sie den Erlass kurz erläutern?

Mit dem Edikt wurde den Kölner Stadträten gestattet, Juden in die Kurie zu berufen. Der Erlass gilt als Nachweis für die älteste jüdische Gemeinde in Mittel- und Nordeuropa. Das Jahr, das wir feiern, ist auf paradoxe Weise auch die Geburtsstunde des Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus. Kaiser Konstantin proklamierte die christliche Religion als Staatsreligion – damit einher ging die Verbreitung des Mythos vom Christusmord. Der Antisemitismus ist ein sehr altes Virus, eines der tödlichsten und bizarrsten der Menschheitsgeschichte.

Bei den Veranstaltungen soll der Fokus nicht auf dem Holocaust– Juden verwenden den Begriff Shoa – liegen, sondern auf der gesamten Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland. Nun ist aber das grausamste Verbrechen der Menschheitsgeschichte immer präsent, wenn es um jüdisches Leben geht – bei Juden wie bei Deutschen. Ist Ihr Ansatz nicht ein bisschen zu ambitioniert?

Natürlich werden wir auch die Shoa thematisieren, das Gedenken daran bleibt immer wichtig. Und es stimmt: Wir werden immer unterschiedliche Perspektiven auf die Shoa haben: Sie gedenken anders als ich – meine Großeltern waren im KZ, die meisten unserer Vorfahren sind von den Nazis ermordet worden.

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Und ein Teil meiner Großeltern hat Hitler gewählt.

Das macht den Umgang miteinander bis heute besonders herausfordernd. Die jüdische Gemeinschaft ist höchst sensibilisiert – und die Deutschen sind eben auch verunsichert. Beide Seiten müssen bereit sein, sich aufeinander einzulassen, die Perspektive zu wechseln. Das verlangt viel Empathie und Wissen über den Anderen. Wie leben wir? Was ist uns wichtig? Was macht unsere Kultur aus und unsere Religion? In dem Festjahr wollen wir einen Impuls setzen, um ein kleines bisschen selbstverständlicher zusammenzuleben. Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Phase, da lief es ganz gut, es war ein freundlicher Nachmittag in der Geschichte, sozusagen, jetzt haben wir eine neue Chance, uns wieder als Gemeinschaft zu begreifen. Wir wollen die jüdische Perspektive sehr umfassend darstellen – und laden jeden ein, sich damit auseinanderzusetzen.

Die Chance ist leider sehr fragil: Politiker, die sich offen gegen Antisemitismus engagieren und die AfD kritisieren, erhalten regelmäßig Morddrohungen. Im vergangenen November gab es einen Anschlag auf eine vollbesetzte Synagoge in Halle, bei dem nur Glück und eine stabile Tür einen Massenmord verhindert haben. Wie haben Sie diese schreckliche Tat im Land der Täter erlebt?

Die jüdische Gemeinschaft war nach dem Anschlag von Halle schockiert, aber nicht überrascht. So ging es mir auch. Fünf Tage vorher gab es auch noch einen Anschlag auf eine Berliner Synagoge, einen Messerangriff. Der Mann kam noch nicht einmal in Untersuchungshaft. Neben der akuten Bedrohung, der seit den wiederholten Morddrohungen gegen Politiker und dem Anschlag bewusster wahrgenommen wird, gibt es den latenten gesellschaftlichen Antisemitismus: rund ein Viertel der Deutschen soll einer Studie zufolge antisemitische Tendenzen haben.

Zur Person

Andrei Kovacs ist leitender Geschäftsführer des Vereins 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Der 46-Jährige ist ausgebildeter Musiker. Er hat unter anderem als Pianist, Dirigent, Marketingmanager und Unternehmer gearbeitet. Kovacs ist Nachfahre von Holocaust-Überlebenden und Vater von drei Töchtern.

An der Organisation und Durchführung des Festjahres sind neben der Geschäftsstelle der Vorstand, die Mitgliederversammlung, das Kuratorium sowie ein wissenschaftlicher Beirat beteiligt. Vorsitzender des Vereins ist Mattias Schreiber, Generalsekretärin Sylvia Lörmann. Der Mitgliederversammlung steht Abraham Lehrer, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden, vor. Vorsitzender des Kuratoriums ist der ehemalige Ministerpräsident von NRW, Jürgen Rüttgers, den wissenschaftlichen Beirat leitet Christiane Twiehaus.

Zu den Gründungsmitgliedern und Unterstützern des Vereins zählen der Journalist Hans Leyendecker, Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden.

Eine 90-jährige Kölner Zeitzeugin, die in einer Biografiewerkstatt des Bundesverbands für NS-Verfolgte mitwirkt, hat nach dem Anschlag gesagt, sie wolle ihren Namen nicht mehr öffentlich nennen und nicht mehr fotografiert werden, sie habe Angst. Haben Menschen aus der Kölner Gemeinde nach Halle gesagt: Wir wandern aus?

Eine Bekannte hat mir gesagt, dass sie vor Halle immer mal wieder mit dem Gedanken gespielt habe, sie wolle irgendwann vielleicht woanders hin. Nach dem Anschlag sagen mehr Leute: Wir wollen hier irgendwann weg. Das ist ein Unterschied. Wir müssen mehr dafür tun, eine Gesellschaft zu sein. Zu sagen: Wir wollen gemeinsam hier leben. Ich möchte das mit meiner Familie – aber wir müssen uns aktiv darum kümmern, dass es gelingt. Sonst kippt es wieder. In der Geschichte gab es zwei Momente, in denen sich jüdisches Leben vielfältig entwickelt hat: Mitte des 19. Jahrhunderts und heute. Leider gibt es viele Parallelen. Zum Beispiel einen Antisemitismus, der von der Gesellschaft lange nicht ernst genommen wurde. Ich denke aber, spätestens seit dem Anschlag in Halle wird das Thema von vielen wieder ernst genommen.

Wie haben Sie Antisemitismus persönlich erlebt?

Antisemitismus verfolgt mich seit meiner Kindheit. Es war eine ständige Bedrohung. Ich bin als Schüler bespuckt und beschimpft worden und musste das Gymnasium wechseln. Damals gab es nicht viele Juden in Deutschland. Ich war der einzige Jude auf der Schule. Das war ein Event.

Sind Sie offen damit umgegangen, jüdisch zu sein?

Ich stand immer dazu, ohne mit einem Schild herumzulaufen. Mittlerweile sind die Zeiten anders. Meine Tochter kommt jetzt aufs Gymnasium, der selbstverständliche Umgang mit ihrer jüdischen Identität und der offene Antisemitismus in Schulen ist schon ein wichtiges Thema. Es gibt das schöne Projekt Rent-a-jew der jüdischen Gemeinschaft. Junge Juden gehen an Schulen und erzählen. Der Titel ist provokant, aber es funktioniert sehr gut – die Jugendlichen lernen sich kennen und bauen Vorurteile ab. Es kennt ja kaum jemand Juden persönlich. Es kursieren viele Gerüchte. Und die befeuern Ressentiments.

Man kennt sich nicht und hat unterschiedliche Perspektiven. Wie lässt sich das im Alltag grundlegend ändern?

Ich gebe ihnen zuerst ein Beispiel: Was sehen Sie in dem Logo für unser Jubiläumsjahr als Erstes?

Einen Davidstern.

Ah, das ist interessant. Die meisten nichtjüdischen Deutschen sagen als Erstes, sie sähen altdeutsche Schrift und sind irritiert.

Ist aber nicht Altdeutsch, oder?

Nein, aber es ist das erste Feedback von vielen nichtjüdischen Deutschen. Oder nehmen wir den Begriff deutsch-jüdisches Jahr: Der Begriff wurde heiß diskutiert, aus nichtjüdischer Perspektive ist er bisweilen zu Deutsch, aber kein einziger Jude hat bislang Anstoß daran genommen, weil sich alle als deutsche Juden fühlen. Es gibt da diese riesige Unsicherheit und Verkrampftheit…

… die vor allem mit der Shoa zusammenhängt: Als Deutscher weiß ich, wenn ich mit Ihnen spreche, dass Verwandte von Ihnen im KZ waren, aus ihrer Familie Menschen von den deutschen Nazis ermordet wurden.

Ja, und das macht es schwierig, weil es uns gemeinsame Wege verbaut. Wenn wir in Deutschland möchten, dass vielfältiges jüdisches Leben stattfindet, dann müssen wir eine einheitliche Perspektive finden. Wir müssen ein Gedenken beibehalten, das nicht zum Ritual erstarren darf, und uns im Jetzt besser kennenlernen.

Die Frage bleibt: Sind die Verletzungen der Überlebenden, aber auch der Nachkommen nicht zu groß? Und die Komplexe der Deutschen? Ist es im Großen überhaupt denkbar? Oder ist das eine Vision, Utopie für die nächsten Generationen?

Eine Zeit lang haben wir provokant den Begriff Wiedervereinigung verwendet. Einheit in Vielfalt. Meine Großeltern waren im KZ; das wird sich auch nicht ändern. Die neue Generation jüdischer Jugendlicher kennt zum Teil keine Shoa-Überlebenden mehr, genauso wenig wie die nichtjüdischen Deutschen. Das bringt uns zu Herausforderungen, aber auch Chancen: Die Jungen wollen einen Neuanfang, sie sind umverkrampfter.

Aber viele hören auch Rapper wie Kollegah oder Farid Bang, die in ihren Liedern antisemitische und antiisraelische Klischees transportieren.

Das ist schlimm. Wichtig ist nicht nur, dass wir den Antisemitismus gemeinsam bekämpfen, sondern auch den Antizionismus, der auch eine Form des Antisemitismus ist. Die Deutschen müssen lernen, das Heimatgefühl der Juden zu Israel zu verstehen und zu akzeptieren. Das hat nichts mit der israelischen Politik zu tun. Israel war, ist und bleibt Teil der jüdischen Heimat. Sobald die Existenz des Staates Israel infrage gestellt wird, wird auch die Existenz der Juden infrage gestellt. Übrigens auch, wenn Prominente zu Boykotts des Landes aufrufen.

Wie wollen Sie in dem Jubiläumsjahr Offenheit und Lockerheit herstellen?

Mit dem Projekt Mentsh! zum Beispiel – da wollen wir jüdisches Leben erlebbar machen: Zusammen kochen, basteln, Musik machen, diskutieren, möglichst zwanglos. Oder mit Sukot: wir planen das größte Laubhüttenfest der Welt in Deutschland. Dazu laufen gerade Gespräche mit möglichen Kooperationspartnern. Das Laubhüttenfest ist ein sehr altes Fest, das schon in der Tora, dem alten Testament, erwähnt wird. Die jüdische Gemeinschaft baut die Laubhütten auf, um an den Auszug der Israeliten aus Ägypten zu erinnern. Sukot repräsentiert Freiheit und Gerechtigkeit. Gleichzeitig ist Sukot ein Erntedankfest. Man baut und dekoriert die Laubhütte und soll in den sieben Tagen viel Zeit darin verbringen.

Sie suchen für das Festjahr Projektpartner. Was heißt das?

Wir haben eine Geschäftsstelle als Basis und drei Arten von Projekten: Erstens Eigenprojekte, das zweite sind Verbundprojekte, für die wir über eine Projekt- und Förderplattform möglichst viele Menschen und Organisationen erreichen möchten, die mitmachen wollen. Die dritte Ebene sind Partnerprojekte: Wir fragen Projektpartner an, die nicht auf finanzielle Hilfe angewiesen sind, sich aber beteiligen möchten: Das können Konzerthäuser, Veranstalter, oder Museen sein, große und kleine Vereine oder Unternehmen. Manchmal reichen kleine inhaltliche Überschneidungen, um zusammenzuarbeiten – und die Idee von mehr Verständnis füreinander mit Leben zu füllen.