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In Köln vor AfD gewarntMorddrohungen gegen Mitglied der Jüdischen Gemeinde

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Helge David Gilberg hat nach einer Rede zum Anschlag von Halle Morddrohungen erhalten.

  1. Nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle warnte Helge David Gilberg in einer Rede vor geistigen Brandstiftern und der AfD.
  2. Seitdem erhält der 56-Jährige von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Köln Morddrohungen. Wobei es nicht das erste Mal ist, dass er bedroht oder beleidigt wird.
  3. Und nicht immer greifen Zeugen ein. Dabei ist das Weggucken, Nichtstun und angebliche Nicht-mitbekommen-haben aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte bekannt.

Köln – Am Tag nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle hält Helge David Gilberg eine Rede mit weitreichenden Folgen – für ihn und die ganze Stadt. Vor 1500 Menschen ruft der stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft auf der Domplatte zu Toleranz und Zivilcourage auf und warnt vor geistigen Brandstiftern. Namentlich erwähnt der 56-Jährige den Thüringer AfD-Vorsitzenden. „Eine der schlimmsten Ursachen für den gewachsenen Antisemitismus und die nun geschehenen Morde finden wir in der andauernden Grenzüberschreitung des rechtsradikalen Faschisten Björn Höcke“, sagte er.

„Er und viele andere aus der AfD haben mit ihren andauernden grenzüberschreitenden Äußerungen den Boden bereitet, dass solche Taten in Deutschland wieder möglich sind – weil diese Täter sich im Recht wähnen.“ Es zerreiße ihm das Herz, dass „wir miterleben müssen, dass nach 1945 und dem mörderischen Regime der Nazis so etwas wieder auf deutschem Boden möglich ist“.

Helge David Gilberg ist erfreut über Kölner Karnevalisten

Viele Menschen gratulieren Gilberg zu seinem Appell. Kölns älteste Karnevalsgesellschaft, die Grosse von 1823, entscheidet unter dem Eindruck des Attentats und der Rede des leidenschaftlichen Karnevalisten Gilberg, zum Sessionsauftakt im Tanzbrunnen über Antisemitismus zu sprechen. Kölsche Bands drehen ein Video, indem sie die Kölner dazu auffordern, „gegen Rechte Idioten aufzustehen“.

Helge David Gilberg ist überrascht und erfreut über die Reaktion der Karnevalisten – die Protagonisten finden am 11.11. auf der Bühne deutliche Worte, die 12.000 Karnevalisten im Tanzbrunnen klatschen lange. Der Karneval zeigt, dass er die Menschen nicht nur zum Feiern zusammenbringen kann.

Köln: Gilberg wird in einem Chat massiv bedroht

In der Nacht nach dem Schulterschluss der Kölner mit der jüdischen Gemeinschaft fragt ein Unbekannter Gilberg in einem Chat harmlos, ob er es gewesen sei, der die Rede auf der Domplatte gehalten habe – ein Teil des Skripts schickt er gleich mit. „Ja“, antwortet Gilberg. Minuten später wird er in dem Chat massiv bedroht und diffamiert. Umgehend verlässt Gilberg den Chat und löscht sein Profil.

Einige Stunden später, ab 2 Uhr am Morgen, rufen Unbekannte auf seinem Handy an, beleidigen ihn antisemitisch und drohen, ihn zu ermorden. Elf Drohanrufe gehen in dieser Nacht bei ihm ein. „Inzwischen sind es viele Dutzend, der letzte kam vor zwei Tagen“, sagt Gilberg. „Die Chatter und Anrufer haben sich immer wieder als AfD-Anhänger ausgegeben.“

Bedrohungen folgten keinem festen Rhythmus

Mit ruhiger Stimme und festem Blick erzählt Gilberg in einem Café in der Innenstadt von den zurückliegenden Wochen. Die Bedrohungen folgten keinem festen Rhythmus. „Vor Weihnachten waren sie sehr exzessiv, dann wurde es ruhiger, scheinbar haben auch die Nazis Weihnachten gefeiert“, sagt er und lacht. „Angerufen wird nur nachts, nie dauert ein Anruf länger als 60 Sekunden.“ Natürlich hätten ihn die Drohungen nicht unberührt belassen. „Aber ich lasse mich davon nicht einschüchtern. Ich werde keinen Satz weniger sagen als vorher.“

Gilberg wirkt selbstbewusst und gefasst. „Wenn man am Fenster steht, kann man nicht erwarten, dass einem nur die Sonne ins Gesicht scheint“, sagt er. „Man kann sogar manchmal braune Spritzer abbekommen. Das Gute ist, dass man sie abwaschen kann.“

Köln: Beleidigungen wegen des Tragens einer Kippa

So redet ein Mensch, der nicht zum ersten Mal bedroht und beleidigt wird. „Man hat wohl vergessen, Dich zu vergasen“, hörte er, als er vor knapp drei Jahren mit der Bahn zur Synagoge fuhr und eine Kippa auf dem Kopf trug. „Was mich in der Situation am meisten schockiert hat, war, dass alle in der Bahn auf den Boden geschaut und nichts gesagt haben. Ich habe aber etwas gesagt, als ich ausgestiegen bin: Jeder, der das gerade gehört hat und nichts gesagt hat, sollte sich schämen.“

Das Weggucken, Nichtstun und angebliche Nicht-mitbekommen-haben ist aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte bekannt. „Der Anschlag von Halle und die sich mehrenden antisemitischen Übergriffe und Anfeindungen zeigen, dass es höchste Zeit ist, dass die Gesellschaft aufsteht. Nicht nur Solidarität zeigt, die wichtig ist, sondern Taten folgen lässt: Die Mehrheit ist leider lethargisch geworden. Ich erwarte mehr Taten – von der Zivilgesellschaft, von den Parteien, den Institutionen, der Landesregierung, der Bundesregierung.“

Gilberg: Besuch in Konzentrationslagern sollte verpflichtend sein

Die Beispiele für dieses Mehr sprudeln aus ihm heraus: Gilberg plädiert für einen verpflichtenden Besuch von Schülern in Konzentrationslagern, in den Schulen sollte die jüdische Geschichte in Deutschland behandelt werden – so wie die 1700-jährige Historie der jüdischen Gemeinschaft in Köln – und nicht allein der Holocaust. Er wünscht sich, dass „möglichst jede Schule Überlebende der Shoa einlädt – solange es sie noch gibt“. Rassismus, Hass und Antisemitismus im Netz müssten schneller und härter geahndet werden.

Gilberg hofft auf „Initiativen und Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinschaft auf allen Ebenen“. Die Zivilgesellschaft dürfe nicht einfach hinnehmen, dass Synagogen bewacht werden und Menschen, die eine Kippa tragen, mit Schmähungen und Angriffen rechnen müssen. „Die Gesellschaft hat hier viel zu lange versagt.“

Juden diskutieren darüber, ob sie in Deutschland noch sicher sind

Nicht erst seit Halle diskutieren Juden darüber, ob sie in Deutschland noch sicher sind. Dass diese Diskussion immer lauter wird und es schon Menschen gibt, die nach Israel ausgewandert sind, „darf die Gesellschaft nicht stumm hinnehmen“, sagt Gilberg. Er wolle nicht unterstellen, dass die Mehrheit dies tue: „Es macht mich stolz, dass Rechtsextreme in Köln keine Heimat haben – obwohl es auch hier eine große Szene gibt. Die Reaktion der Grossen von 1823 macht mich froh, und das bedingungslose Engagement von Kölner Bands wie Brings, den Fööss, den Höhnern, den Klüngelköpp und anderen. Aber auch hier in Köln muss noch mehr getan werden.“

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Wie die Gesellschaft angemessen auf Hass und Ressentiments reagieren kann und zusammenhält, hat Gilberg erfahren, als er vor zehn Jahren Karnevalsprinz in Dinslaken am Niederrhein war und von einem rechtspopulistischen Bürgermeisterkandidaten als „schwuler Wicht“ beleidigt wurde. Die Fraktionen schmiedeten in der Folge ein Bündnis für Toleranz und Weltoffenheit und stellten sich geschlossen hinter Gilberg, der sich zu seiner Homosexualität bekennt, es aber lieber hätte, darüber wie über seine Religion gar nicht reden zu müssen.

Über Antisemitismus will er so lange weiterreden, „bis sich meine Hoffnung erfüllt, dass die Synagoge nicht mehr bewacht werden muss“. Das nächste Mal wird Gilberg am 26. Januar im Kölner Rathaus reden – wider das Vergessen, zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.