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Ärzte-Chef im Interview„Deutschland ist auf Zuzug von Medizinern aus dem Ausland angewiesen“

Lesezeit 5 Minuten
Ein Hausarzt misst in seiner Praxis einer Patientin den Blutdruck. (Symbolbild)

Ein Hausarzt misst in seiner Praxis einer Patientin den Blutdruck. (Symbolbild)

Dominik von Stillfried ist Vorstandsvorsitzender des Bundesinstituts der Kassenärztlichen Versorgung. Bundesweit seien schon 4800 Hausarztsitze unbesetzt, sagt er. Und schlägt Lösungen vor.

Herr von Stillfried, in Köln schlagen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte Alarm: Es werde immer schwerer, Nachfolger für Praxen zu finden, viel zu wenige junge Medizinerinnen und Mediziner rückten nach. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Dominik von Stillfried: Köln steht als attraktive Großstadt derzeit sogar noch etwas besser dar als der Durchschnitt in Deutschland. Hier wirken noch die allgemein bekannten Pull-Faktoren von Großstädten, wie soziale Infrastruktur, Bildungs- und Kultureinrichtungen oder Mobilität, die eine Niederlassung attraktiver machen. Aber es stimmt: Die demografische Struktur gibt Anlass zu großer Sorge.

Bereits heute sind mehr als ein Fünftel aller Vertragsärztinnen und -ärzte älter als 60 Jahre. Die Politik hat es verpasst, dem bevorstehenden Engpass durch eine Förderung von zusätzlichen Medizinstudienplätzen vorzubeugen
Dominik von Stillfried, Bundesvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung
Dominik von Stillfried, Bundesvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung

Dominik von Stillfried, Bundesvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung

In Köln sind niedergelassene Hausärzte im Schnitt 55 Jahre alt, Radiologen sogar 60. Was bedeutet die Überalterung für die Zukunft der ambulanten Versorgung in Deutschland?

Wir werden die Anzahl der aus Altersgründen ausscheidenden Ärztinnen und Ärzte nicht durch Medizin-Absolventen nachbesetzen können. Die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boomer haben das letzte Lebensdrittel erreicht. Bereits heute sind mehr als ein Fünftel aller Vertragsärztinnen und -ärzte älter als 60 Jahre. Die hohe Anzahl der Medizinerinnen und Mediziner zwischen 57 und 60 Jahren zeigt die enorme Welle der zu erwartenden Ruhestandseintritte in den nächsten fünf bis sieben Jahren an. Die Politik hat es verpasst, dem bevorstehenden Engpass rechtzeitig durch eine Förderung von zusätzlichen Medizinstudienplätzen vorzubeugen. Für die Zukunft der ambulanten Versorgung bedeutet das, dass ein schnelles Umdenken hin zu effizienten Versorgungsformen erforderlich ist, um den Sicherstellungsauftrag zu erfüllen.

Die Grafik zeigt die Altersstruktur von Ärzten in Köln (blau) und im Bund (grün)

Altersstruktur Ärzte in Köln (blau) und im Bund (grün)

Wie kann das gelingen?

Ein Teil der frei werdenden Sitze kann durch Ärztinnen und Ärzte besetzt werden, die aus einer Tätigkeit im Krankenhaus kommen. Konzepte von Teampraxis müssen gefördert werden, auch ambulante-stationäre Kooperationsformen müssen an Bedeutung gewinnen. In jedem Fall gehört aber auch die Förderung der Niederlassung und die Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen für eine Tätigkeit in der ambulanten Patientenversorgung zu den notwendigen Maßnahmen. Denn wo es keine Praxisinhaber gibt, können auch keine Teams, keine Anstellungen und keine Kooperationen entstehen.

Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen sind besorgt über die Entwicklung, dass Investmentfirmen immer öfter Praxen aufkaufen und daraus medizinische Versorgungszentren machen. Was denken Sie darüber?

Grundsätzlich muss man sich aufgrund der beschriebenen Rahmenbedingungen über jede neue Praxis freuen. Das Problem mit medizinischen Versorgungszentren (MVZ) ist, dass Praxissitze, die Teil eines MVZ geworden sind, für die selbständige Niederlassung nicht mehr zur Verfügung stehen, sondern Teil von größeren Unternehmen werden. Für MVZ zeigen unsere Analysen ein widersprüchliches Bild: So arbeiten diese in der Regel weniger produktiv als die Praxen selbständig niedergelassener Ärztinnen und Ärzte.

Pro Stunde behandeln die dort Angestellten weniger Patientinnen und Patienten als die Praxen selbständig Niedergelassener. Andere MVZ spezialisieren sich auf besonders gut bezahlte Operationen oder technische Leistungen und arbeiten Patientinnen und Patienten wie am Fließband ab. Darunter könnte die notwendige Breite der Versorgung leiden. Zudem gibt es in MVZ viel Teilzeitarbeit und eine hohe Fluktuation. Ärztinnen und Ärzte wechseln oft, die Kontinuität der Behandlung könnte darunter leiden. Diese Entwicklungen müssen beobachtet werden. Am Ende müssen die Praxisformen gefördert werden, die am meisten zur Sicherstellung der Versorgung beitragen.

Bei den Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern tut sich schon heute eine riesige Lücke auf. Aktuell sind bereits 4800 Hausarztsitze unbesetzt
Dominik von Stillfried

In welchen Facharztbereichen zeigen sich schon jetzt Versorgungsengpässe?

Bei den Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern tut sich schon heute eine riesige Lücke auf. Aktuell sind bundesweit bereits 4800 Hausarztsitze unbesetzt. Einen deutlichen Anstieg der Fallzahlen erwarten wir auch bei Facharztgruppen, die hauptsächlich an der Behandlung älterer Menschen beteiligt sind, allen voran bei den fachärztlichen Internistinnen und Internisten. Hier spiegeln sich Verlagerungen aus der stationären Krankenhausbehandlung, mehr Spezialisierung, aber auch mehr fachärztliche Mitbehandlung und fachübergreifende Kooperation wider, die zu steigenden Patienten- und Fallzahlen führen. Zudem müssen wir mitdenken, dass der medizinische Fortschritt immer mehr ambulante Behandlungen möglich und immer weniger Krankenhausbehandlung notwendig macht.

Was folgt daraus?

Wir müssen umdenken. Bisher betrachten wir die Ballungsräume als ärztlich überversorgt. Tatsache ist, dass wir dort eine besondere Zunahme des Versorgungsbedarfs erwarten müssen. Eine Besonderheit sehen wir bei den ärztlichen und nichtärztlichen Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Geht man rein nach der Bevölkerungsprognose, würden wir dort Fallzahlrückgänge erwarten, weil die Psychotherapie bisher vor allem von Personengruppen in Anspruch genommen wird, deren Anteil an der Bevölkerung künftig zurückgeht. Die Fallzahl bei den jüngeren Menschen ist aber massiv angestiegen.

Dominik von Stillfried: Der Zuzug von Fachärzten aus dem Ausland müsste erheblich steigen

Welche Rolle spielt die Zuwanderung von Ärztinnen und Ärzten, um Versorgungsengpässe zu verhindern?

Deutschland ist kurz- und mittelfristig darauf angewiesen, dass der Zuzug von Ärzten und Fachärzten aus dem Ausland erheblich steigt. Nur so kann das gewohnte ambulante Versorgungsniveau gehalten werden. Selbst wenn die Studienplatzkapazitäten im Fach Humanmedizin umgehend um 30 bis 50 Prozent erhöht würden, wären die Auswirkungen in der vertragsärztlichen Versorgung erst nach 15 Jahren zu spüren, also 2038. In der Zwischenzeit zeigen sich die Folgen des Studienplatzabbaus in den letzten zwei Jahrzehnten. Der Wettbewerb um ausgebildete Mediziner und Fachärzte wird in den nächsten zehn Jahren extrem zunehmen. Es wird spürbar schwieriger werden, das heutige medizinische Leistungsangebot flächendeckend zu garantieren und zu verhindern, dass strukturschwächere Regionen benachteiligt werden.

Viele niedergelassene Ärzte – auch der Virchow- Bund — haben Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vorgeworfen, ein „Krankenhaus-Minister“ zu sein. Welchen Blick haben Sie darauf?

Die Krankenhaus-Reform ist ein großes und herausforderndes Vorhaben, das naturgemäß viel Aufmerksamkeit bindet. Wir haben aber durchaus den Eindruck, dass die Sorgen insbesondere um die Zukunft der ambulanten Versorgung nicht so ernst genommen werden, dass im Bundesgesundheitsministerium jetzt systematisch alle Maßnahmen zu notwendigen Verbesserungen der Rahmenbedingungen geprüft werden. Das ist deshalb so kritisch, da sich das Zeitfenster für ein Wirksamwerden der erforderlichen Maßnahmen schließt, wenn eine große Zahl von Praxen ohne Nachfolger aufgegeben wird.