Deutz – Wenn die Geschäfte schließen, beginnt auf der Deutzer Freiheit das zweite, das nächtliche Leben. Die Einkaufsstraße im Rechtsrheinischen wird dann zum Fluchtpunkt für diejenigen, die keine andere Bleibe haben. Vor Haustüren und in den überdachten Eingängen der Geschäfte schlagen Obdachlose ihre Elendslager auf.
Einzeln oder in kleinen Trüppchen campieren sie dort die ganze Nacht, trinken Alkohol und verrichten nicht selten ihre Notdurft an Ort und Stelle. „Früher gab es Obdachlose und Bettler vor allem in der Innenstadt. Aber vor ungefähr einem Jahr hat das auch hier enorm zugenommen“, sagt ein Geschäftsinhaber. Zweimal sei schon auf seine Schwelle gepinkelt worden, ein drittes Mal habe er es im letzten Moment verhindern können. Einmal musste er die Polizei rufen, weil ein Mann volltrunken eingeschlafen und nicht mehr wachzubekommen war.
Geschäftsinhaber in der Zwickmühle
Seinen Namen möchte er nicht nennen, er befürchtet, mit seiner Meinung bei Kunden und Nachbarn anzuecken. Aber er hat sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, das ist ihm anzumerken. Als Geschäftsinhaber fühlt er sich in der Zwickmühle. „Einerseits möchte ich diese Leute nicht vor meinem Laden sitzen haben, weil sie abschreckend wirken. Andererseits sehe ich natürlich auch den Menschen und dessen Schicksal.“
Manchmal, gibt er zu, schenkt er den Bettlern Geld, nur damit sie ein paar Meter weitergehen. Häufig gibt er auch nichts, weil er unsicher ist, ob das überhaupt Sinn macht. Soll er es unterstützen, wenn sich jemand von dem Geld doch nur Alkohol oder andere Drogen kauft? Gibt es in Köln nicht genügend Anlaufstellen, wo Arme Kleidung, Essen und andere Hilfen bekommen? Was ist mit den angeblichen Banden aus Südosteuropa, die die Bettelei quasi gewerbsmäßig betreiben sollen? „Man weiß einfach viel zu wenig über die Situation dieser Menschen“, sagt der Geschäftsmann.
Das empfiehlt die Caritas
Fragen, die sich viele Bürger stellen und die auch bei den Hilfsorganisationen immer häufiger ankommen. Der Caritasverband für die Stadt Köln hat deshalb anlässlich des internationalen Tags zur Beseitigung der Armut (Dienstag) einen Leitfaden herausgegeben für den Umgang mit Betteln und Armut.
Ziel sei es, so Caritas-Chef Peter Krücker, Informationen zu Armutsursachen zu vermitteln und den Einzelnen zu ermutigen, wieder eine persönliche Haltung zum Thema zu entwickeln. „Früher war es üblich, etwa den Bettlern vor den Kirchen Almosen zu geben. Heute ist uns das Verhältnis zur Armut aufgrund unseres Wohlstands verloren gegangen“, so Krücker.
Dabei ist Armut in Köln in den vergangenen Jahren immer sichtbarer geworden. Wohnungslose, Alkohol- und Drogenabhängige, Hunderte Bettler, vermehrt auch aus Osteuropa, aber auch Rentner, die die Mülleimer nach Pfandflaschen absuchen, sind zum alltäglichen Anblick geworden.
Rund 4700 Obdachlose leben in Köln
4700 Obdachlose gibt es laut der Wohnungslosenstatistik des Landes allein in Köln. Sie sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Jeder fünfte Kölner, so schätzt der Caritas-Verband, lebt in relativer Armut, hat also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Dazu zählen viele Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Frauen, Hartz-IV-Empfänger und Menschen mit kleiner Rente. Jeder zweite Kölner hat Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein.
Waren Armut und Bettelei bis vor zwei Jahren vor allem in der Innenstadt präsent, hat sich das Phänomen mittlerweile auf nahezu alle Kölner Stadtbezirke ausgeweitet. Nach Beobachtung der Caritas hat das mit dem verstärkten Kontrolldruck zu tun, den Polizei und Ordnungsdienst seit den Silvesterereignissen 2015/16 rund um den Dom ausüben und der zu einer Verdrängung geführt habe.
Bürger reagieren unterschiedlich
Ob Deutzer Freiheit, Severinstraße oder Kalker Hauptstraße: Vom Ausmaß der Armut fühlen sich manche Anwohner und Geschäftsleute zunehmend gestört. Vor wenigen Wochen schlug der Grünen-Politiker und Bezirksbürgermeister Innenstadt Andreas Hupke Alarm, nachdem er zahlreiche Zuschriften bekommen hatte. Tenor: Aggressive Bettelei und exzessiver Alkoholismus, vor allem von Zuwanderern aus Osteuropa, sowie die Begleiterscheinungen wie Lärm und Dreck hätten die Grenzen des Zumutbaren bei weitem überschritten.
Man kann es aber auch anders sehen. Auf der Deutzer Freiheit haben Janine Faßbender und Petra Heinen dem alten Mann, der ihnen vor dem Supermarkt seinen Pappbecher entgegenstreckt, wie selbstverständlich Geld hinein geworfen. „Dem gebe ich immer etwas, und er passt dafür auf mein Fahrrad auf. So muss ich es nicht abschließen“, sagt Faßbender.
Sie hat eine klare Haltung im Umgang mit der Bettelei: „Alten Menschen gebe ich eigentlich immer etwas. Jungen eher nicht, weil ich finde, dass die sich eine Arbeit suchen sollen. Und wenn mir jemand dumm kommt und mich direkt anschnorrt, kann ich auch sehr deutlich meine Meinung sagen.“
Ihre Freundin Petra Heinen sieht es ähnlich, mit einer Einschränkung: Denjenigen, die sie für Rumänen hält, gibt sie nichts mehr. „Ich habe beobachtet, wie sie Frauen mit kleinen Kindern vorschicken, und an der nächsten Ecke lauert der Aufpasser, der ihnen das Geld sofort wieder abnimmt. Das will ich nicht unterstützen.“