Thomas Broich kommentiert und analysiert die EM neben Tom Bartels. Der Ex-Profi des 1.FC Köln war in Australien zweimal bester Spieler der A-League.
Auf der lit.Cologne diskutierte er mit Christoph Biermann: „Jeder, der wissen will, wie eine Bundesligamannschaft tickt, muss nur zu deinem Buch greifen.“
Thomas Broich liest vor allem Bücher, die sich damit beschäftigen, wie man besser leben kann
Akribische Vorbereitung sei wichtig, auf dem Bildschirm wie auf dem Platz, sagt der U15-Trainer von Eintracht Frankfurt
Köln – Herr Broich, Sie haben bei der lit.Cologne mit Christoph Biermann über dessen Buch „Wir werden ewig leben - Mein unglaubliches Jahr mit dem 1. FC Union Berlin“ gesprochen. So ein Buch zu analysieren, ist das dasselbe wie die Analyse eines Fußballspiels im TV? Nein, das kann man nicht vergleichen. Das Buch habe ich mit großem Spaß gelesen und mit meinen eigenen Erfahrungen abgeglichen, aber ich musste das nicht auswerten oder beurteilen.
Eher genießen wie ein Fan, der sich an einem gut geschriebenen Buch erfreut. Es war frappierend, wie sehr es mich an meine eigene Karriere erinnert hat, wie sehr sich Abläufe gleichen, wie sehr sich Mannschaften ähneln. Jeder, der wissen will, wie eine Bundesligamannschaft tickt oder wie eine Saison abläuft, muss nur zu diesem Buch greifen. Dann kann er sich vorstellen, wie es bei seinem Lieblingsverein auch aussieht.
Ja und nein. Natürlich hat jeder Verein was unverkennbares, eine spezielle Historie. Und die Typen sind natürlich Unikate. Aber im Grunde sind die Abläufe überall sehr ähnlich. Die Rollen, die Positionen, die es so gibt, die verschiedenen Aufgaben, die die wahrnehmen. Ein Zeugwart ist de facto einer, der das Material bereitstellt, aber der ist auch so etwas wie ein Beichtvater, so ein halber Psychologe. Das ist in jedem Bundesligateam so. Oder die ganzen verrückten Charaktere – es wird immer den einen geben, der ein bisschen crazy ist, den anderen, der egozentrisch ist, den, der betont desinteressiert ist. Die Typen habe ich in jeder Mannschaft kennengelernt.
Haben sie viel über Fußball gelesen?
Nicht wirklich. Ab und zu passiert‘s, aber ich ziehe mir nicht jedes Buch über Fußball rein.
Was lesen sie sonst?
Seit einigen Jahren vor allem populärwissenschaftliche Bücher. Bücher, die sich damit beschäftigen, wie man besser leben kann. Wie man Sachen schneller erlernt, das eigene Denken besser dechiffriert. Bücher sollen mich informieren, inspirieren, und mir helfen, mich selber besser zu verstehen. Mich besser mit Leuten zusammenarbeiten und mich effektiver werden lassen. Ein super Beispiel wäre Daniel Kahnemann „Thinking, Fast and Slow“. Die verschiedenen Systeme, die in uns ablaufen, in sich selber wiederzuerkennen.
Oder „The Talent Code“ (dt. Titel: „Die Talent-Lüge – Warum wir (fast) alles erreichen können“) von Daniel Coyle. Ein sehr spannendes Thema: Wie lernen wir eigentlich? Die alte Herangehensweise, wo man eher über den Drill kommt oder die neue, die differentielles Lernen bevorzugt? Wie kann man so etwas wie Intuition tatsächlich auch ausbilden? Wie Muster erkennen? Das hat nichts mit Fußball zu tun, ist aber auf Fußball übertragbar. Das fasziniert mich.
Sieht man ein Spiel denn dann anders?
Definitiv. Die Frage ist: Was ist ein richtiger Experte? Einer, der Muster erkennt in erster Linie. Intuition ist eine Verarbeitung von Mustern und die daraus resultierenden guten Entscheidungen, die man trifft. Damit beschäftige ich mich als Jugendtrainer gefühlt Tag und Nacht. Da Wege zu finden, dass man nicht sagt, da ist ein Talent vom Himmel gefallen, sondern warum hat einer das entwickelt, was er entwickelt hat? Wie ein Schachspieler, der auf eine Konstellation blickt und sofort weiß, was da stattfindet. Der merkt sich ja nicht einzelne Figuren, die da stehen, sondern für ihn ist das eine Gesamtkonstellation.
Diese Art von Mustererkennung findet —- im Spitzensport auch statt und erlaubt manchen Sportlern, wesentlich bessere, informiertere Entscheidungen zu treffen. Das fasziniert mich total und danach halte ich Ausschau, wenn ich Fußball schaue. Ich achte auf Bewegungsmuster, also warum setzt sich einer im Eins-gegen-Eins durch? Oder wie operieren Fußballmannschaften im Verbund? Das kollektive Agieren, die Schwarmintelligenz – sehr spannend.
Sie hatten als Spieler ein Gespür für den Raum, das war ihre große Stärke.
Darum geht es: Wahrzunehmen, was um einen rum ist, vielleicht auch noch die zweite oder dritte Ebene drüber. Wenn man sich Ilkay Gündogan anschaut bei der Nationalmannschaft, wie viel der am Scannen ist. Wie so ‘ne kleine Eule ist der permanent am Gucken, links, rechts, vorne, hinten. Wo sind Mitspieler? Wo kommt der Gegnerdruck her? Wo haben wir gute Zahlenverhältnisse? Wie kann ich mich gut in einen Raum hineinlösen? Superspannend, dieses Raumgefühl zu entwickeln. Andres Iniesta, mein großes Idol, konnte das wie kaum ein anderer.
Ein hochkomplexes Ding, vor allem, wenn man es zerlegt. Sie trainieren seit einem Jahr die U15 von Eintracht Frankfurt mit ihrem Blog-Partner Jerome Polenz. Wie bringt man das Jugendlichen näher?
Man klärt sie auf über die Mechanismen des Spiels. Eine Mannschaft wird sich defensiv immer zum Ball hin orientieren, dann weißt du quasi, wo der Raum sein muss. Man kann auf Individualtechniken eingehen, diese Schulterblick-Geschichte zum Beispiel, also dass man nicht nur auf den Ball guckt, sondern auch ein Mal alle 1-2 Sekunden, wo die Gegenspieler, wo die Mitspieler gerade sind. Das Agieren im Verbund. Die verschiedenen Ebenen, die es im Spiel gibt. Das kann man alles trainieren, kann es ihnen im Video zeigen. Das klappt nicht von heute auf morgen, aber man kann sie schon zu besseren, schlaueren Fußballern machen.
Zur Person
Thomas Broich (40), Ex-Fußballprofi, spielte in der Bundesliga für Mönchengladbach, den 1. FC Köln und Nürnberg. Beim australischen Erstligisten Brisbane Roar (2010-2017) wurde er dreimal Meister sowie zweimal bester Spieler der A-League. Seit 2018 ist er Taktik-Experte, erst für DAZN, jetzt für die ARD. Darüber hinaus trainiert er die U15 von Eintracht Frankfurt.
Wollen Sie im Jugendbereich bleiben oder gibt es perspektivisch andere Ziele?
Ich bin grundsätzlich offen für alles, habe mich aber schon sehr in die Arbeit verliebt. Die jungen Leute sind noch extrem gut formbar. Wenn man da gute Arbeit leistet, dechiffriert, was wirklich abgeht, die Abläufe optimiert, dann liegt da unglaublich viel Potential drin. Ich kann mir gut vorstellen, das auch in Zukunft zu machen. Das Arbeiten mit Kindern macht mich sehr, sehr glücklich.
Neben der Analyse des rein Sportlichen helfen auch die eigenen Erfahrungen, die guten wie die schlechten.
Darum geht’s, man darf sich ja gar nichts vormachen. Von den Jungs, die wir aktuell trainieren, wird statistisch gesehen mal einer Profi. Wir wären fehl am Platz, wenn wir all unsere Energie nur darauf verwenden würden, bessere Fußballern aus den Kindern zu machen. Es geht in erster Linie darum, Qualitäts-Werte fürs Leben auszubilden. Das ist ja ein Prozess, was wir auf dem Platz machen. Den Prozess werden sie im Leben in anderer Form wiederfinden. Wie gehe ich mit Konkurrenten um? Wie arbeite ich im Team? Wie verbessert man sich eigentlich?
Also diese Willensausdauer, die Leidensfähigkeit. Und trotzdem locker, leicht zu bleiben, nicht verzweifeln, wenn dann Niederlagen kommen, Rückschläge. Erkennen, dass das zum Leben dazu gehört und man sich trotzdem diese positive Art, diese Freude, bewahren kann. Das wollen wir ausbilden neben dem Fußball. Eine Sache, die mir total am Herzen liegt, ist eine Fehlerkultur. Wir lernen da am meisten, wo Fehler passieren. Wenn ich an die Grenzen gehe und ausprobiere, mache ich auch Fehler. Das ist aber gar nicht schlimm, denn wenn ich dranbleibe, werde ich es irgendwann können. Traut euch, Fehler zu machen, da liegt der Zauber, da liegt das Potential.
Sie haben rückblickend auf die eigene Karriere durchaus zugegeben, Fehler gemacht zu haben.
Die Liste ist ewig lang. Ich hatte mir — eine gewisse Attitüde zugelegt und mich dadurch ein Stück weit isoliert. Dabei geht es immer drum im Leben, Gemeinsamkeiten zu betonen. Ich hatte irgendwann eine durch nichts begründete Erwartungshaltung. Ich habe lange sehr, sehr hart gearbeitet, um in der Bundesliga anzukommen und dachte dann —-, das würde von alleine so weiterlaufen. Ich habe mich qualifiziert für die Bundesliga und gar nicht begriffen, dass man sich alles jeden Tag neu erarbeiten muss. Aber als junger Mensch darf man solche Fehler machen, das finde ich nicht so schlimm. Natürlich hat mich das auch viel gekostet und ich habe mir schon gewünscht, dass ich das eine oder andere schneller begriffen hätte. Am Ende ist es trotz einiger Tiefen okay so, wie es gekommen ist.
Zu den Tiefen gehört auch die Zeit beim 1. FC Köln. Ich habe Sie mal fotografiert auf der FC-Sitzung im Karneval. Das fühlte sich damals fast körperlich so an, als wollten sie überall lieber sein als da, verkleidet im Sartory.
(lacht) Weiß ich nicht mehr im Einzelnen, aber es war nicht immer einfach. Gerade Köln ist eine spezielle Stadt, da ist immer ein gewaltiger Druck, eine mediale Erwartung. Oft ein bisschen Chaos im und um den Verein herum. Das war keine einfache Zeit für mich, trotzdem habe ich sie sehr genossen. Mir geht es da wie vielen: Köln mag nicht perfekt sein, aber es ist — liebenswert. Der Vereinen und die Menschen haben mich nie kalt gelassen. Ich bin nach meiner Australien-Zeit erstmal wieder nach Köln gegangen, habe da fast drei Jahre gelebt. Für mich eine tolle Stadt.
Jetzt leben sie im Frankfurter Raum.
Ja, wegen des Trainerjobs. Trotzdem bin ich noch relativ viel in Köln beim Fernsehen, das ist ja nur eine Stunde mit dem Zug.
Die ARD hat sie als Experten bei DAZN abgeworben, weil Sie es als Analyst so gut gemacht haben. Das war oft sehr erhellend.
(lacht) Das ist auch unser Anspruch, dass wir nicht einfach irgendwas behaupten, sondern zeigen können anhand von drei, vier Szenen, dass sich bestimmte Muster wiederholen. Dann können wir die Idee dahinter verdeutlichen.
Lebt man das Tag und Nacht? Es gibt gefühlt immer ein Spiel zu gucken.
Das wird schon manchmal viel. Man ist ja gezwungen, im Thema zu bleiben. Ich habe viele Baustellen: diese Saison habe ich Bundesliga gemacht, DFB-Pokal, Champions League. Dann noch eine eigene Mannschaft trainieren, da bin schon an Grenzen gestoßen. Es hat ja auch mit inspiriertem Gucken zu tun. Man muss wach sein, mit echtem Interesse.
Wie akribisch schaut man? Reicht ein Spiel oder muss eine Mannschaft zehn Mal gesehen haben, um die Mechanismen zu erkennen?
Man muss schon viele Spiele gucken. Ein einzelnes Spiel kann so oder so laufen, das ist nicht so wahnsinnig aussagekräftig. Es ist auch wichtig, mit dem Scouting Feed zu arbeiten, um alle Spieler im Blick zu haben. Das normale TV-Signal ist eher für den Fan da, mit vielen Close-Ups, mit vielen Wiederholungen. Ich genieße es, mir unter der Woche die Spiele ungeschnitten anzusehen und versuche, noch mal Muster zu entdecken.
Was machen sie genau bei der Europameisterschaft?
Ich bin Co-Kommentator und begleite mit Reportern wie Tom Bartels das Spiel. Im US-Sport ist diese Rollenverteilung längst etabliert: ein „Play-by-Play-Mann“, der das Geschehen beschreibt, und ein „Color Commentator“, meist ein Ex-Spieler, der Hintergründe liefert.
Haben Sie ein Vorbild?
Ich habe mich stark von Matthias Sammer inspirieren lassen. Die Art, wie er früher bei Eurosport über Fußball gesprochen hat, der Sachverstand, die Leidenschaft, immer auch mit Empathie und Respekt vor den Spielern. Sammer ist nie von oben herab gewesen, das gefällt mir.