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Wegen Corona-KriseKölner Familien mit geistig behinderten Kindern leiden besonders

Lesezeit 5 Minuten

Familie Hoffmann mit ihren drei Kindern. Hannah ist schwerst mehrfachbehindert.

Widdersforf/Weiß – Familie Möller hat drei Kinder, zwei Töchter, elf und neun Jahre alt, und einen sechsjährigen Sohn. Hannah, die Elfjährige, ist mehrfach schwerstbehindert, sie sitzt im Rollstuhl, muss gefüttert werden, und ist zu 100 Prozent auf Hilfe angewiesen. Hannah wohnt gemeinsam mit ihrer Familie in Köln-Widdersdorf. „Unser Alltag war vor Corona bestens strukturiert, mein Sohn war vormittags im Kindergarten, meine Tochter in der Grundschule und Hannah in der Förderschule.

Am Nachmittag konnten die beiden Jüngeren zum Sport, zum Musikunterricht, auf den Spielplatz, oder sie gingen zu den Großeltern. Ich konnte mich um Hannah kümmern, brachte sie zur Ergo-, Logo- oder Physiotherapie. Seit acht Wochen habe ich alle drei Kinder permanent zu Hause, bei uns herrscht 24 Stunden Ausnahmezustand“, erzählt Jenny Pfeffer-Möller, die täglich diesen Balanceakt zwischen Versorgung und Pflege des schwerstbehinderten Kindes allein bewältigen muss.

Schulbegleiterin kümmert sich auch in Corona-Zeiten

Familie Möller steht im engen Kontakt mit der Lebenshilfe und hat das große Glück, dass Hannahs Schulbegleiterin auch in Corona-Zeiten täglich zu ihr nach Hause kommt und sich am Vormittag um Hannah kümmert.

Lebenshilfe Köln

Die Lebenshilfe Köln wurde Anfang der 50-er Jahre als Elterninitiative gegründet und setzt sich für die Bedürfnisse und Anliegen von Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Angehörigen ein. Sie hat aktuell 700 Mitglieder. Die Organisation kooperiert mit verschiedenen Institutionen in Köln und wird von der Stadt Köln als Partnerin geschätzt und gefördert.

www.lebenshilfekoeln.de

„Durch die Notbetreuung, die die Lebenshilfe anbietet, wird die Situation etwas entzerrt“, sagt die 42-Jährige, deren Ehemann als Arzt in einem systemrelevanten Beruf tätig ist und nicht mal eben frei nehmen oder im Homeoffice arbeiten kann. Die Möllers sind eine von 700 Kölner Familien, die im engen Kontakt mit der Kölner Lebenshilfe stehen und deren Angebote, auch außerhalb der Pandemie, in Anspruch nehmen.

„Wir haben nach der Schließung der Förderschulen und Werkstätten alle 700 Familien angerufen und Hilfe angeboten. Anfänglich haben sich die meisten Familien die Zusatzbelastung zugetraut, doch inzwischen gehen viele auf dem Zahnfleisch. Über unsere Corona-Hotline erreichen uns zahlreiche Anrufe verzweifelter Eltern“, sagt Matthias Toetz, Geschäftsführer der Lebenshilfe.

Ungerechtigkeit und völlige Nichtbeachtung der Behinderten

Viele Anrufer wollten einfach ihre Sorgen los werden, sich aussprechen. Doch immer mehr gehe es in den Gesprächen auch um die Ungerechtigkeit und völlige Nichtbeachtung der Behinderten in der öffentlichen Corona-Debatte. Wenn von der Öffnung der Schulen geredet wird, dann stets von Schulen mit Abschlüssen. Da es in den Förderschulen keine Abschlüsse gibt, fallen diese völlig aus dem Diskussionsrahmen.

„Die Eltern fühlen sich zu Recht häufig doppelt benachteiligt. Ich glaube, das Leben mit einem behinderten Kind ist an sich schon oft außergewöhnlich belastend. Aber wenn die Familien – wie jetzt aktuell – auch noch auf zusätzliche Hürden treffen, die durch die Pandemie, die politischen Beschlüsse und gesellschaftliche Zwänge entstehen, dann ist es emotional besonders schwierig“, sagt Toetz.

Eltern dürfen ihre Kinder nicht sehen

Die 22-jährige Clara Hoffmann lebt seit zwei Jahren mit sechs Mitbewohnern in einer Wohngruppe in Sülz, ein Wohnprojekt der Lebenshilfe. Clara hat eine geistige Behinderung, ist aber motorisch nicht auf fremde Hilfe angewiesen. Vor dem Ausbruch der Pandemie arbeitete sie in einer Werkstatt, ging mit ihren WG-Bewohnern einkaufen, sie kochten und aßen gemeinsam und das Wochenende verbrachte sie bei ihren Eltern. Doch seit Corona konnte Clara ihre Eltern nicht sehen.

Clara Hoffmann

Die 22-jährige Clara Hoffmann hat eine geistige Behinderung

„Wir haben mit unserer Tochter telefoniert und geskypt, haben immer wieder versucht, ihr die Situation zu erklären, aber sie versteht es kognitiv nicht. Sie sagt immer wieder: «Wenn ich wieder brav und nett bin, holt ihr mich dann ab?»“, erzählt Verica Spasovska und man merkt ihr an, wie sehr auch sie als Mutter unter dieser Situation leidet.

Belastung auf emotionaler Ebene nicht zu unterschätzen

Obwohl die Betreuer der Lebenshilfe, die für Claras Wohngruppe zuständig sind, einen großartigen Job machen, wie die Eltern betonen, ist die Belastung auf emotionaler Ebene nicht zu unterschätzen. „Das Hauptproblem ist, dass es für Behindertenheime bislang kein Ausstiegsszenario gab. Uns fällt immer mehr auf, dass Familien mit schwerstbehinderten Kindern im politischen und öffentlichen Diskurs im Rahmen der Corona-Pandemie nicht stattfinden, das ist sehr ärgerlich. Deshalb sind wir froh, dass das Gesundheitsministerium jetzt auch in diesem Bereich erste Lockerungen erlaubt“, so die Eltern von Clara, die beide in systemrelevanten Berufen tätig sind und nicht unendlich Urlaub nehmen können, um Clara für längere Zeit nach Hause zu holen.

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Sie fragen sich, warum es nicht schon früher möglich war, das Kontaktverbot etwas unbürokratischer zu handhaben. „Um die unüberschaubar lange Periode ohne Wiedersehen zu verkürzen, um die emotionalen Belastungen zu erleichtern, hätte man doch den Eltern den Zugang erlauben können, wenn diese sich zeitnah vor dem Besuch hätten testen lassen“, so die Mutter, die jetzt glücklich ist, dass die acht Wochen ohne Tochter endlich zu Ende sind.

Bei Familie Möller ist noch keine Entspannung in Sicht. „Die Behörden lassen uns völlig im Dunklen, ob und wann die Förderschulen wieder öffnen. Ich verstehe schon, dass die Angst vor Infektionen groß ist, dass die Einhaltung der Hygieneregeln den Menschen mit geistiger Behinderung nur schwer zu vermitteln sind. Aber ein gut durchdachtes Konzept mit wenigen Kindern im Schichtsystem für zwei Stunden täglich wäre sicherlich machbar“, sagt Jenny Pfeffer-Möller, die Mutter von Hannah.