Gabby Alary war als Au-pair-Mädchen 2001 in Köln. Kurz vor ihrer Rückkehr nach Kanada überlebte sie nur knapp einen schweren Unfall.
Unglück vor 22 Jahren„Ich habe mich fürs Kämpfen entschieden“ – Gabby Alary nach Unfall zurück in Köln
Der 5. Juli 2001 war ein sonniger, windstiller Tag. Ideal, um mit Paula ins Schwimmbad zu gehen. Oder mit Oscar in den Park. Gabby entschied sich, mit dem Fünfjährigen auf den Spielplatz am Fort X an der Lentstraße zu gehen. Es war ihr letzter Tag als Au-pair-Mädchen bei der Familie Frohnhoff in Köln-Nippes. Bevor es zurück nach Kanada gehen sollte, wollte die 18-Jährige noch ihre ältere Schwester Chloe, die im Ruhrgebiet lebte, besuchen. Für Ende des Monats war der Rückflug in die Heimat geplant. Doch es sollte nahezu eineinhalb Jahre dauert, bis Gabby Alary wieder nach Hause konnte.
Gabby wollte mit Oscar nur auf den Spielplatz gehen
Oscar und Gabby hatten Spaß auf dem Spielplatz. Der Knirps kletterte, sauste die Rutsche hinunter und spielte im Sand. Daran erinnert sich der heute 28-Jährige nur vage. Was er nie vergessen hat, ist der Moment, als Gabby zu Boden fiel und nicht mehr aufstand. Es dauerte einen Augenblick, bis der kleine Junge verstand, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. „Ich dachte zunächst, sie macht Spaß. Aber dann sah ich das ganze Blut.“ Ein dicker Ast war aus der Baumkrone gebrochen und hatte die junge Frau am Kopf getroffen. Die Ärzte im Krankenhaus diagnostizierten später ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Knochenbrüche.
Zunächst kämpften die Rettungskräfte im Park um das Leben der Schwerverletzten. 20 Minuten wurde sie vor Ort reanimiert. Als sie stabil war, wurde Gabby in die Klinik für Neurochirurgie im Krankenhaus Merheim eingeliefert und dort mehrere Wochen intensivmedizinisch betreut. Das Ärzteteam sah angesichts der schwersten Verletzungen zunächst nur eine Überlebenschance von fünf Prozent für die Patientin. Und sollte sie es schaffen, würde sie aller Voraussicht nach nicht mehr laufen können und zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen sein.
Auch 22 Jahre nach dem Unfall ist der Kontakt nach Köln nicht abgerissen
22 Jahre nach dem Unfall war Gabby Alary unlängst zusammen mit ihrem Mann Jean-Pierre zu Besuch in Köln. Der Kontakt zu ihrer ehemaligen Gastfamilie ist nie abgerissen. Auch nicht zum Krankenhaus Merheim. Alle gemeinsam besuchten sie nun die Klinik und trafen sich mit sechs Teammitgliedern, die Gabby damals intensivmedizinisch betreut haben.
Der 5. Juli 2001 hat auch das Leben von Oscar und Paula sowie ihrer Eltern Bernd Frohnhoff und Mecki Hansmann verändert. Vor allem für Oscar, der den Unfall miterlebt hat, war es nicht einfach. „Ich konnte das alles zunächst überhaupt nicht begreifen. Ich fühlte mich seltsamerweise mitschuldig an dem Unfall, weil ich auf den Spielplatz wollte. Ich habe mich auch geschämt. Mir hat eine Therapie sehr geholfen, das Erlebte zu verarbeiten. Rückblickend wäre es gut gewesen, wenn auch meine Schwester und meine Eltern diese Hilfe bekommen hätten. Denn das Unglück hat ja unsere ganze Familie betroffen.“
Die fast sechs Jahre ältere Paula fand damals Rückhalt und Unterstützung im Freundeskreis. „Ich habe viel und intensiv mit meinen Freundinnen gesprochen. Sie kannten Gabby ja auch und wussten, dass sie mir wichtig war. Sie war so etwas wie eine ältere Schwester. Ich fand cool, wie sie drauf war, so lebenslustig und unbekümmert. Sie hatte total viele Piercings und einige Tattoos. Als ich sie in der Reha besucht habe, war ich total geschockt. Sie saß im Rollstuhl und war völlig verändet, eine andere Person.“
Der Unfall hat aus Gabby Alary einen anderen Menschen gemacht
Gabby Alary stimmt zu, allerdings aus einem anderen Blickwinkel. Der Unfall habe aus ihr tatsächlich einen anderen Menschen gemacht. „Zum Glück. Ich habe eine zweite Chance bekommen, die ich nutze. Ich bin dankbar, dass ich lebe und weiß, dass jeder Tag ein Geschenk ist.“ Sie verhehlt nicht, dass sie das erst lernen musste. Ihr Weg zurück ins Leben sei nicht leicht gewesen, erzählt sie.
An die Behandlung im Krankenhaus Merheim schloss sich ein 14 Monate dauernder Aufenthalt in einer Rehaklinik in Hattingen an. „Ich war zuerst furchtbar wütend und verzweifelt. Ich war ohne Hoffnung und ohne Motivation, absolut am Tiefpunkt. Ohne meine Schwester Chloe hätte ich es nicht geschafft. Sie hat mir Mut gemacht und gesagt, dass ich mich entscheiden kann, wie ich weiterleben will. Ich habe mich fürs Kämpfen entschieden. Aufgeben war ab diesem Zeitpunkt keine Option mehr für mich.“
Genau das möchte sie Menschen, die in einer vergleichbaren Situation sind, vermitteln. Sie arbeitet derzeit an einem Buch, in dem sie ihre Geschichte erzählen möchte. Sie will zeigen, dass es möglich ist, wieder aufzustehen, wenn man kämpft und nie aufgibt. Und dass fünf Prozent Überlebenschance reichen können. „Ich bin heute sehr glücklich. Ich bin zwar etwas langsamer als früher, aber ich arbeite daran, dass es immer weiter bergauf geht.“
Die 40-Jährige kann ohne Unterstützung gehen und stehen. Sie trainiert stetig, um ihre eingeschränkte linke Körperhälfte zu mobilisieren. „Ich kämpfe weiter.“ Das kann sie jedem, der daran zweifelt, auch schriftlich geben. Sie hat sich das Wort „Kämpferin“ in großen Buchstaben auf den rechten Unterarm tätowieren lassen.