„Die Stadt ist fußgängerunfreundlich"Sehbehinderte sind in Köln oft in Lebensgefahr
- Wie reagieren Menschen – was erzählen sie, wenn man sie auf der Straße anspricht und zu einem Kaffee einlädt?
- Dieser Frage geht Susanne Hengesbach regelmäßig nach. Heute spricht sie mit dem Traumatherapeuten Marcus Hegner.
- Als schwer Sehbehinderter ärgert der 49-Jährige sich über den zunehmend zugemüllten Kölner Straßenraum
Köln – Mein heutiger Gesprächspartner muss gar nicht erst die Stadt verlassen, um Abenteuer zu erleben. Die begegnen ihm, sagt er, fast täglich im Kölner Straßenland.
Marcus Hegner braucht nur die Wohnung verlassen, dann geht es schon los: Gegenstände auf dem Bürgersteig, die dort nicht hingehören. Fahrradfahrer auf unbeleuchteten Rädern. Kinder, die auf dem schmalen Gehstreifen mit ihren Rollern an ihm vorbeisausen. Hundehaufen, obwohl er die noch als „das kleinere Übel“ bezeichnet, weil die „nicht lebensgefährlich“ sind, im Gegensatz zu manchem Fußgängerüberweg. Der 49-Jährige gehört zu den knapp 130.000 Menschen in Deutschland, die nach Angaben des Statistischen Landesamts blind (circa 77.000) oder hochgradig sehbehindert (etwa 51.000) sind. Die Zahlen (Stand Dezember 2019) beruhen auf Schätzungen.
Hegner, der gebürtig aus Braunschweig stammt, konnte als Kind einwandfrei sehen. Erst im Alter von 20 wurde ihm, als er den Führerschein machen wollte, sein schlechtes Sehvermögen attestiert. Wenn es bei den 20 Prozent Sehschärfe, die damals festgestellt wurden, geblieben wäre, hätte er jetzt weitaus weniger Probleme. Leider wurde seine Sicht aufgrund einer schweren Beschädigung des Sehnervs jedoch „immer nebeliger“, bis die Sehstärke beim linken Auge nur noch bei 1,5 Prozent und beim rechten bei drei Prozent lag. Dies sei seit 31 Jahren unverändert so geblieben, betont mein Gegenüber.
Er studierte Psychologie und wurde Traumatherapeut
Als junger Mensch mit der Tatsache konfrontiert zu werden, fast nichts mehr erkennen zu können, muss schrecklich gewesen sein, mutmaße ich. Hegner lächelt und räumt ein, dass er zunächst „geschockt gewesen" sei und erstmal keinen Plan hatte, wie es in seinem Leben weitergehen sollte.
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Er besuchte in Hannover die Blindenschule, erlernte die Brailleschrift, machte 1995 sein Abitur und studierte Psychologie. Seit 2003 lebt er in Köln und arbeitet, wie er erzählt, unter anderem als Trauma-Therapeut.Einige seiner Patienten seien ehemalige Bundeswehrsoldaten, die nach ihrem Afghanistan-Einsatz schon Herzrasen bekommen, „wenn ein Moped an ihnen vorbeifährt“, oder die Panik-Attacken erleben, wenn sie in der Fußgängerzone auf größere Menschenmengen stoßen.
Akustische Ansagen in Köln fehlen
Marcus Hegner wirkt auf mich sehr entspannt, aber auch er verliert seine innere Ruhe und gerät in Stress, beispielsweise, wenn ihn sein Weg über den Barbarossaplatz führt. „Das ist so was von übel!“ Denn nahezu blinden Menschen wie ihm bringen die digitalen Anzeigetafeln natürlich gar nichts.
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Als noch akustisch angesagt wurde: „Linie 18 in zwei Minuten“, fand Hegner sich zurecht. „Erst durch diesen Wechsel ist es grottenschlecht geworden“, sagt der Mann, der mitunter nicht genau weiß, in welcher Bahn er sitzt. Als Katastrophe empfindet er aber nicht nur die Anzeigetafeln. Abgeflachte Bordsteinkanten seien für Menschen wie ihn lebensgefährlich. Andere Ärgernisse seien schräge Fußgänger-Überwege sowie Leitsysteme, wie jenes am Hauptbahnhof, das seiner Meinung nach nicht der Standardgröße entspreche „und man ins Leere läuft“.
„Der ganze Mist, der an der Straße abgestellt wird"
Nach Ansicht von Hegner gibt es in der Millionenstadt Köln viel zu wenig Überwege, an denen Sehbehinderten mittels Orientierungston das Überqueren der Straße erleichtert wird. Abgesehen vom Verkehr auf der Straße ergeben sich für ihn weitere Gefahren durch „die zunehmende „Vermüllung der Gehwege“ und dadurch, dass Bürgersteige an vielen Stellen „durch E-Scooter und den ganzen anderen Mist, der an der Straße abgestellt wird“, zugeparkt sind.
Eine „fußgängerfreundliche Stadt“ sei Köln wahrlich nicht, meint mein Gesprächspartner. Ich frage ihn, wie ihm die Menschen begegnen – beispielsweise im Supermarkt. - „Da ich mich dort sozusagen schon fast blind auskenne“, habe er dort selten Probleme, meint Hegner lächelnd. Im Übrigen wolle er autonom sein und nicht jedem fremden Menschen seine Lebensgeschichte erzählen.