Die Kölnerin Marisa Sommer erzählt von dem Moment, als sie von ihrer endgültigen Erblindung erfuhr. Und wie sich ihr Leben dadurch veränderte.
Der MomentDie Kölnerin Marisa Sommer erblindet mit 39 Jahren – und bleibt doch kämpferisch
Die Aussage ihrer Ärzte Anfang 2001 veränderte Marisa Sommers Leben. „Wir kämpfen um ihre ein und zwei Prozent Sehkraft, aber verbessern wird sie sich nicht mehr. Und wir kämpfen um die Erhaltung ihrer Augen überhaupt.“ Sommer, die zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt ist, entscheidet sich, trotz Erblindung ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen.
„Als mein Arzt mir sagte, dass sich meine Sehkraft nicht mehr verbessern würde, war das natürlich ein harter Schlag“, sagt sie. Ein bis zwei Prozent Sehkraft bedeutete, dass sie noch Lichtkleckse wahrnahm, die ineinander verschwommen. „Das ist, wie wenn Wasserfarben auf ein Blatt treffen“, beschreibt sie es. „Es gibt keine scharfen Konturen, Farben konnte ich nicht mehr unterscheiden, alles war grau.“
Kölnerin erkrankt an seltener Autoimmunerkrankung – und verliert ihr Augenlicht
Mit 29 Jahren erkrankte Sommer im Jahr 1990 an einer seltenen Autoimmunerkrankung, die sich Uveitis nennt. Ihre Tochter war zu dem Zeitpunkt gerade ein Jahr alt. Mit der Erkrankung gehen Entzündungsschübe am Auge einher, die die Sehkraft beeinflussen. „Wenn ich einen Schub hatte, sah ich schlechter, und wenn der Schub vorbei war, wieder besser.“ Sie nahm viele Medikamente, hatte Nebenwirkungen von der Immunsuppression.
Lange Zeit lag ihre Sehkraft noch bei 90 Prozent. „Das ging gut bis circa 1999, also neun Jahre und schon über zehn Operationen später.“ Dadurch waren ihre Augen bereits sehr angegriffen, „und dann ist meine Sehkraft bei einem Schub von 90 auf 40 Prozent abgefallen“. Auto fahren konnte sie nicht mehr, ihren Führerschein gab sie freiwillig ab. Arbeiten konnte sie auch nicht mehr, im selben Jahr wurde sie pensioniert.
Anfang 2000 traten drei weitere heftige Schübe hintereinander auf, sodass Sommers Sehkraft innerhalb von rund neun Monaten auf ein und zwei Prozent abfiel. Ihre Tochter war da elf Jahre alt. „Ich musste meinem Kind erstmal vermitteln, dass Mama nicht mehr sehen kann.“
Die heute 62-Jährige erzählt von den schweren Momenten: „Eine solche Behinderung – die wirklich heftig ist, da gibt es nichts zu beschönigen – die muss man betrauern dürfen, wie den Verlust eines geliebten Menschen.“ Sommer sagt: „Tagsüber funktionierte ich, aber abends, wenn das Kind im Bett war, habe ich schon viel geweint.“ Irgendwann kam der Punkt, an dem sie dachte, „man kann stürzen, man muss aber auch wieder aufstehen.“
Sie fasste einen Entschluss. Sie wollte leben, vor allem selbständig leben. Noch vor der endgültigen Diagnose fing sie mit Mobilitätstraining an. Je früher, desto besser, sagte ihr Arzt damals. „Der Blindenstock wurde mein bester Freund. Man läuft da anders mit, ich hatte eine ganz andere Sicherheit, und setzte meine verbliebenen Sinnesorgane stärker ein. Meine zehn Finger sind heute meine zehn kleinen Augen.“
Kochen, duschen, putzen – „Alles musste neu erlernt und anders gemacht werden“, sagt sie und bewältigt die alltäglichen Aufgaben durch Training, Energie und Ausdauer. Neben dem Blindenstock ist ihr Smartphone ein unverzichtbares Hilfsmittel, das ihr dank Sprachausgabe und nützlicher Apps im Alltag hilft.
Umgang mit Behinderung: Lebensphilosophie und Humor
Im Umgang mit der Behinderung half es ihr, sich eine neue Lebensphilosophie aufzubauen. „Man sollte wirklich gründlich über das eigene Leben nachdenken und sich fragen, ‚Wo soll mein Leben jetzt hingehen?‘“
Sie hat für sich festgestellt: „Ich lebe gerne, ich möchte weiterhin selbstbestimmt leben, ich möchte eine normale Mutter und Ehefrau sein. Ich wollte nicht zu Hause sitzen und darauf warten, dass der Tod mich holt.“
Wichtig war ihr auch, dass sie ihren Humor nicht verliert, erzählt sie. Zum Abendessen hatte sie einmal gelben Bohnensalat gemacht. Ihr Mann kam von der Arbeit nach Hause und fragte, was es zu essen gebe. „Gelben Bohnensalat“, antwortete sie. „Gelber Bohnensalat? In der Schüssel ist aber Ananas“, entgegnete ihr Mann verwundert. „Das sind Dinge, die passieren, wir haben beide doll gelacht“, sagt die 62-jährige.
Zwei weitere Schicksalsschläge
2005 verlor sie ihr letztes bisschen Sehkraft und sah von nun an nur noch schwarz. Um ihren Alltag zu erleichtern, legte sie sich 2006 ihren ersten Blindenführhund Paul, einen deutschen Schäferhund, zu. Vor einigen Jahren musste er eingeschläfert werden. Seit einiger Zeit ist Reiner, ein weißer Königspudel, an ihrer Seite, und führt die Aufgabe fort.
Zwei weitere Schicksalsschläge treffen Sommer im Jahr 2011. Ihr müssen beide Augen entfernt und durch Glasprothesen ersetzt werden, da sie durch die Erkrankung schmerzten und schrumpften. Ihr Ehemann, ihr emotionaler Anker und bester Freund, verstarb zudem plötzlich an einem Herzinfarkt. Ein Verlust, der für sie den schmerzhaftesten Moment ihres Lebens darstellte. „Ich hätte noch einmal die Erblindung durchgemacht, wenn ich ihn dafür zurückbekommen hätte.“
Mehr Aufmerksamkeit für Blinde im Alltag
Sommer wünscht sich von der Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit im Umgang mit sehbehinderten Menschen. Während viele hilfsbereite Menschen sie im Alltag unterstützen, gibt es auch diejenigen, die gegenüber den Bedürfnissen blinder Menschen ignorant sind.
„Mein Blindenhund Reiner, der ein Führgeschirr trägt, und mein weißer Blindenstock sollten eigentlich unmissverständlich signalisieren, dass hier eine sehgeschädigte Person unterwegs ist. Dennoch fällt das vielen Menschen nicht auf.“
Steigt sie etwa in eine Bahn ein, sucht sie immer dieselbe Stange zum Festhalten. „Einige Leute sind aber so mit sich selbst beschäftigt, die nehmen mich trotz Stock und Hund nicht wahr und wenn ich keinen Halt habe, kann das gefährlich werden.“
Sehende „eiern herum“ – Menschen vorurteilsfrei begegnen
Auch wünsche sie sich, dass Sehende ihren Sprachgebrauch gegenüber Blinden nicht verändern würden, sagt sie. „Viele Sehende meinen, sie müssten Wörter wie ‚gucken, sehen, schauen‘ im Gespräch mit Blinden vermeiden und eiern dann so herum.“ Das sei Unsinn, zumindest für sie, es störe sie nicht, wenn Menschen so sprechen. „Ich bin Marisa und zu mir gehört, dass ich blind bin, aber in erster Linie bin ich Marisa und nicht die Blinde.“
Durch ihre Erblindung habe sie aber auch eine positive Veränderung erlebt. „Die Erkrankung hat mit zwar die Sehkraft genommen, aber mir die Augen dafür geöffnet, Menschen komplett vorurteilsfrei zu begegnen. Kein Sehender, auch wenn er noch so frei von Vorurteilen ist, kann das von sich behaupten.“ Heute zähle für sie nur der Mensch. An einer Stimme könne man viel mehr erkennen als an Gestik und Mimik, sagt sie.
Trotz ihrer Erblindung ist Marisa Sommer glücklich. Das Augenlicht vermisst sie eigentlich nicht, nur in besonderen Momenten, wie etwa dem Abiball ihrer Tochter. „Wie gern hätte ich gesehen, wie sie in ihrem Abendkleid aufgerufen wird und auf der Bühne stolz ihr Zeugnis entgegennimmt.“ Oder die Hochzeit ihrer Tochter. „Ich hätte alles dafür gegeben, sie kurz in ihrem Brautkleid sehen zu dürfen.“