Über Wochen haben Reporter des „Kölner Stadt-Anzeiger“ 2021 die ausufernde Drogenszene auf dem Neumarkt beobachtet. Die verdeckte Recherche legt offen, wie dreist die Dealer vorgehen.
Ungeniert winkt der ganz in schwarz gekleidete Mann eine Frau mit verschmutzter grüner Jogginghose heran, die mit suchendem Blick an der Straßenbahnhaltestelle steht. „Hier“, ruft er. Und holt, direkt neben einem Wartehäuschen der Straßenbahn, zwei Kügelchen aus seiner Jackentasche. Zwei Geldscheine, insgesamt wohl 30 Euro, gibt die Frau ihm dafür und verschwindet.
Dass am Kölner Neumarkt mit Drogen gehandelt wird, ist bekannt. Aber so offen? Zwei arabisch sprechende Männer, die offensichtlich zu dem Dealer gehören und ihm den Rücken freihalten, beobachten die Umgebung. Alle drei sind deutlich gepflegter gekleidet als die Menschen, denen sie ihre Ware verkaufen.
Abgewickelt werden die Geschäfte meist neben oder hinter dem Kiosk an der Nordseite des Neumarktes. Ohne Scheu, für jeden sichtbar. Die Kontaktaufnahme erfolgt meist per kurzem Blickkontakt, dann ein Nicken, dann wird verhandelt. Ansprechpartner ist immer der Schwarzgekleidete.
Fünf Junkies kommen alleine in den folgenden 20 Minuten, kaufen eine Kugel oder ein weißes Pulver, das der Mann ihnen in die Hand schüttet. Einer der Käufer, ein junger Typ so um die 30, lässt sich das Pulver auf einen Fetzen in seiner Handfläche schütten. Den Fetzen formt er dann zu einer fingerkuppengroßen Kugel und verschließt sie mit seinem Feuerzeug.
Ist es eine Ausnahme, dass sich diese Szenen tagsüber und nahezu frei beobachtbar am Neumarkt abspielen? Oder ist es trauriger Alltag, in dem die Drogenhändler immer dreister werden? Irritiert von den eigenen Beobachtungen beschließt ein Reporterteam des „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor etwa einem Monat, die Probe aufs Exempel zu machen. Zehnmal werden die Journalisten in den kommenden Wochen verdeckt auf dem Neumarkt recherchieren – zu verschiedenen Tageszeiten und an unterschiedlichen Wochentagen.
Was sie beobachten, ist erschreckend. Nicht ein einziges Mal treffen sie keinen mutmaßlichen Drogenhändler an. Es gibt Händler, Aufpasser, Kuriere und Depots. Und es gibt unfassbares Elend, das zur Normalität geworden ist. Einige ihrer Beobachtungen haben die Reporter exemplarisch aufgeschrieben.
Morgens: Der Kurier im Einsatz
Neben einem Wartehäuschen auf dem KVB-Bahnsteig Richtung Heumarkt steht ein etwa 50 Jahre alter Mann mit einer Anglerweste. Er ist klein, dünn und trägt einen Rucksack, im Mundwinkel klemmt eine Zigarette. Seine dünnen Haare hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ein junger Nordafrikaner kommt auf ihn zu, sie begrüßen sich knapp. Wortlos zieht der Ältere ein Kügelchen aus rotem Papier aus einer Tasche, gibt es dem Anderen – offenbar ein Kurier – und erhält einen 10-Euro-Schein dafür.
Mit der Kugel in der Hand geht der Kurier über die Schienen auf die andere Seite des Bahnsteigs und reicht das Kügelchen an einen Dealer weiter, der es nur Minuten später einer jungen Frau verkauft, die soeben aus einer Straßenbahn gestiegen ist. Dass an diesem Vormittag wegen einer Wahlkampfveranstaltung der AfD Polizisten und Einsatzkräfte des Ordnungsamtes über den Neumarkt patrouillieren, scheint die Dealer nicht im Geringsten zu stören.
Derweil erhält der kleine, schmächtige Mann mit dem Pferdeschwanz einen Anruf. „Ja, ich hab noch welche“, spricht er in akzentfreiem Deutsch ins Handy. „Wo stehst du? Warte, ich komme rüber“, sagt er, verlässt den Bahnsteig und trifft sich ein paar Meter weiter an der Ampel vor dem Gesundheitsamt mit einem jungen blonden Mann. Wieder wird Ware gegen Geld getauscht, dann zieht der Blonde weiter in Richtung Josef-Haubrich-Hof.
Der Dealer mit dem Pferdeschwanz kehrt zu seinem Platz auf dem Bahnsteig zurück. Dieses Prozedere wiederholt sich so oder ähnlich in der nächsten Stunde mehrfach. Und nicht nur an diesem Tag – drei Tage später steht der schmächtige Dealer gegen 14 Uhr am Bahnsteig in Fahrtrichtung Rudolfplatz, wieder mit einer Zigarette im Mund. Ein etwa 30 Jahre alter Kunde in einem blauen Trainingsanzug, die Augen zu Schlitzen verengt, taumelt auf den Verkäufer zu, steckt ihm einen Geldschein zu und erhält im Gegenzug etwas in die Hand gedrückt. Der Mann mit dem Pferdeschwanz scheint gefragt zu sein am Neumarkt.
Mittags: Schon „verbrannt“?
Der Schwarzhaarige mit dem leuchtend blauen T-Shirt wirkt entspannt. Er lehnt an der Kioskwand in Richtung Haltestellen und lächelt. Etwas entfernt von ihm steht ein bulliger Begleiter im grauen Sweatshirt und schaut eher mürrisch. Meist scheinen es Teams zu sein, die am Neumarkt Drogen verkaufen.
Einer, oft ausgestattet mit einer kleinen Brusttasche, schließt die Deals ab und hat die Drogen. Ein weiterer oder mehrere Komplizen sind als Bodyguards oder Späher dabei, um vor eventuell auftauchender Polizei zu warnen.
Polizei aber ist jetzt nicht vor Ort. Drei- oder viermal hat der „Blaue“, der aus dem arabischen Raum zu stammen scheint, schon Geld von meist jüngeren und fahrig wirkenden Menschen in Empfang genommen und dafür kleine Kügelchen aus seiner Tasche geholt, da bemerkt er den Reporter des „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Womöglich hält er den Mann, der seit geraumer Zeit am Bahnsteig steht und in keine der Bahnen steigt, für einen Polizisten. Mit seinem Begleiter geht der Blaue zum am Platzende, rechts vom Kiosk liegenden Zugang zur U-Bahn. Die beiden verschwinden im unterirdischen Gewimmel mit Läden und mehreren Zwischenebenen. Etwa zehn Minuten später tauchen sie wieder auf. Beobachten von der gegenüberliegenden Fahrrichtung aus, was sich am Neumarkt tut. Dann verschwinden sie wieder.
Am Nachmittag: Der Schlepper und das Depot
Der junge Mann mit dem großen Rucksack auf dem Rücken könnte ein Student auf Interrail-Tour sein. Unscheinbar steht er neben dem Kiosk und spielt mit seinem Handy. Etwa viermal wird er in den kommenden Minuten kontaktet. Ein Blick, ein kurzes Nicken, das reicht. Dann geht der junge Mann in Richtung des nördlichen U-Bahn-Zugangs.
Dort angekommen, zeigt er auf einen Komplizen, der auf der Zwischenebene in der Mitte der Treppe steht. Diesmal ist ein Junkie mit Borussia-Mönchengladbach-Pudelmütze mitgegangen. Die Verhandlungen laufen. Der Käufer bekommt ein Tütchen, der Verkäufer einen Schein.
Es scheint, als würden vier weitere Personen den Deal absichern. Auf der Treppe sitzen zwei Frauen und schauen aufmerksam, was sich unten in der U-Bahnstation tut. Oben stehen zwei extrem abgemagerte Männer und beobachten den Neumarkt. Die Helfer sehen aus, als ob sie selbst abhängig wären. Der Verkäufer ist nicht nur besser gekleidet, sondern wirkt ansonsten auch zugänglicher. Ein Junkie setzt sich kurz nach dem Kauf noch auf der Treppe einen Schuss in den Unterleib. „Hast du wirklich da rein gespritzt?“ ruft der Dealer mit osteuropäischem Akzent. Der Drogenabhängige nickt. Nach 20 Minuten ist das Sextett plötzlich verschwunden – Dealer, Schlepper und die vier Helfer sind weg.
Der Drogenhandel aber geht weiter. Auf dem Gehweg vor dem Gesundheitsamt begrüßen sich zwei Männer: Mitte Zwanzig der eine, blond, muskulös, Rucksack, bekleidet mit hellem T-Shirt und einer weißen, knielangen Arbeitshose mit Seitentaschen. Um die 40 der andere; dunkelhaarig, abgerissene Klamotten, ein müdes, vernarbtes Gesicht.
Ein kurzer Handschlag, dann gehen die Männer nebeneinander her in Richtung Stadtbücherei, überqueren den Josef-Haubrich-Hof und nehmen einen unscheinbaren verwinkelten Weg hinter dem Rautenstrauch-Museum zum Parkplatz hinter dem Cäcilienkloster. Sie scheinen sich so sicher zu fühlen, dass sie sich nicht ein einziges Mal umsehen – sonst hätten sie den Reporter bemerkt, der ihnen mit 30 Metern Abstand folgt.
Vor einer Mauer sind Pflastersteine im Boden eingelassen, viele sind locker. Einen hebt der Blonde mit dem Rucksack hoch, holt seine Ware darunter hervor und reicht sie dem Älteren. Dann trennen sich die Wege wieder. Haben einige Dealer hier ihre Verstecke, ihre Bunker? Eine Stunde später sitzen entlang dieser Mauer, teils im Schutz geparkter Autos, drei Junkies und setzen sich einen Schuss. Daneben hocken zwei Männer auf einem Mauervorsprung und rauchen. Der Boden ist an manchen Stellen regelrecht übersät von silbernen Alufolie-Resten und Spritzenverpackungen.
Am späten Nachmittag: Die Überredungsversuche der Dealer
„Suchst du was?“, fragt der Typ im dunkelblauen Trainingsanzug mit gelben Seitenstreifen. Er habe „Schore“, wie Heroin in der Szene genannt wird, und Subutex. „Was ist das?“, fragt der verdeckt agierende Reporter. „Medikament, kommst du nicht auf turkey (Entzug), ist geil, nur zehn Euro“, antwortet der Mann, der vermutlich türkische Wurzeln hat. Einige Meter weiter, sichtlich gelangweilt, steht sein schwergewichtiger Aufpasser und zieht an der etwas zu kleinen grünen Trainingsjacke, die sich über seinem Bauch spannt.
„Heute nicht“, antwortet der Reporter, um seine Tarnung nicht auffliegen zu lassen. Er wird der einzige sein, der in den kommenden Minuten nach einem Gespräch mit dem Dealer kein Kügelchen bekommt und dafür Geld bezahlt. Subutex ist wesentlich stärker schmerzhemmend als Morphin und wird seit den 1990er Jahren neben Methadon als Ersatzstoff für Heroin verwendet, erklärt später ein Fachmann.
In der Neumarkt-Baustelle 100 Meter entfernt sitzen fünf Drogenabhängige und verteilen kleine Tütchen, während zwei offenbar unbenutzte und eine mit Blut gefüllte Spritze auf dem Boden liegen. Wer nicht nah an den rot-weißen Baustellen-Zaun herantritt, kann das Quintett nicht sehen. Der Platz hinter den Absperrungen, die mittlerweile entfernt wurden, wird in den Wochen zuvor tagsüber immer wieder von Junkies genutzt, um sich einen Schuss zu setzen.
„He, brauchst du was, Shore oder so? “, fragt an einem anderen Tag ein Dealer mit osteuropäischem Akzent, der den Kopf schüttelnden Reporter schon mehrfach in der Nähe des Neumarkt-Kioskes gesehen hat. Und deshalb womöglich glaubt, er gehöre zur Szene. „Was hat der gesagt?“, fragt ein junger Nordafrikaner, als der Osteuropäer ein paar Meter weiter gegangen ist. „Der wollte Zeug verkaufen“, sagt der Reporter. „Aha“, antwortet der gepflegt wirkende wohl Mitte 20-Jährige und grinst. „Kauf nicht von denen, Ich hab besser, auch Koks.“
Heute lieber nicht, antwortet der Reporter. Scheinkäufe dürfen Journalisten aus rechtlichen Gründen nicht durchführen. Minutenlang redet der Dealer auf den Reporter ein, der das Gespräch direkt im Anschluss auszugsweise protokolliert. „Habe wirklich alles, komm, nur ein paar hundert Meter entfernt, da habe ich alles“, sagt der Nordafrikaner. „Vielleicht ein anderes Mal“, der Journalist. „Hast du kein Geld? Egal, du kaufst später, wenn dir der Stoff gefällt.“ – „Nein.“ – „Ich nehme mit dir zusammen. Du wirst sehen, ist gut.“ – „Heute lieber nicht.“ – „Normal ist 25 Euro, aber ich kann dir heute auch Paket für zehn Euro machen.“ – „Ich brauche nichts.“ – „Aber ich, komm mit, hilf mir, ich nehm‘ mit dir zusammen.“ – „Ich kenne dich doch gar nicht.“ – „Wir haben alles, ehrlich.“ - „Heute nicht.“ – „Du willst später immer wieder haben, unsere Sachen. Bestimmt, probier‘ mal, bitte.“ – „Nein.“ – „Doch, doch, du kannst mir vertrauen. Ehrlich, wir sind Männer von Ehre, ich schwör.“
Dieser Text ist erstmals am 15. Dezember 2021 auf ksta.de erschienen.