„Wer gesund stirbt, ist auch tot!“Kölner Chefarzt Manfred Lütz über Gesundheitswahn
- Der Kölner Chefarzt und Bestseller-Autor Manfred Lütz ist für seine scharfzüngige Meinung deutschlandweit bekannt.
- So wettert er unter anderem gegen den Fitness-Kult und Diät-Sadismus. Aber der Psychiater gibt in seinen Büchern auch bewegende Einblicke in die Welt von Süchtigen, Depressiven und Schizophrenen.
- In seiner KStA-Kolumne „Wahn und Sinn – das ganze Leben” antwortet Lütz jede Woche auf eine von Lesern gestellte Sinnfrage.
- Folge 1 ist eine Abrechnung mit dem immer stärker grassierenden Gesundheitswahn.
In vielen Geburtstagsgratulationen heißt es, „Hauptsache gesund!“ Das klappt bekanntlich nicht immer. Aber ist das überhaupt der richtige Wunsch?
Der Brief der 32 Jahre alten Frau beruhigte mich. Ich hatte gerade mein Buch „Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitneßkult“ veröffentlicht, in dem ich mich – auch satirisch – mit dem allgemeinen Gesundheitswahnsinn befasse und war ein wenig besorgt, dass eine Satire über Gesundheit schwer Kranke, vor allem humorlose schwer Kranke, vielleicht verletzen könnte. Und da war es außerordentlich beruhigend, dass schon wenige Wochen später dieser Brief bei mir eintraf, in dem die Verfasserin sich herzlich für das Buch bedankte.
Sie habe eine Fallot’sche Tetralogie – eine angeborene Herzkrankheit – , sei seit ihrer Geburt schon sechsmal am Herzen operiert worden, aber sie freue sich ihres Lebens. Für sie sei der gedankenlose Spruch mancher Zeitgenossen „Hauptsache gesund!“ eine Frechheit, denn dann hätte sie in ihrem ganzen Leben ja nie diese Hauptsache gehabt. Die Ärzte hätten ihr dringend von Nachwuchs abgeraten, aber sie habe zwei prachtvolle Kinder bekommen. Sie genieße jeden Tag ihres Lebens.
Gesundheit als Heiligtum
Es gab mal eine große Anzeige einer Pharmafirma über eine ganze teure Seite in einer überregionalen Zeitung nur mit dem Satz: „Gesundheit ist das höchste Gut“. Und tatsächlich ist auch der Spruch „Hauptsache gesund!“ vor allem eine Marketingdevise. Wenn nämlich Gesundheit das höchste Gut wäre, dann wären alle, aber auch wirklich alle Bemühungen um dieses höchste Gut nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht jedes Bürgers und jeder Bürgerin, ja der ganzen Gesellschaft.
Jede Einsparung in diesem Bereich widerspräche den Menschenrechten. Jede Abwägung wäre zynisch. Das aber wäre das Ende jeder Gesundheitspolitik, denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut hingegen kann man nicht abwägen, dafür muss man immer alles tun – oder es wenigstens behaupten. Diese Sakralisierung der Gesundheit ist philosophisch abwegig, politisch verheerend, aber ökonomisch hochinteressant.
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Viele Menschen glauben heute nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit. Und alles, was man früher für den lieben Gott tat, wallfahren, fasten, gute Werke tun, das tut man heute für die Gesundheit. Es gibt Menschen, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund, aber auch wer gesund stirbt, ist leider definitiv tot.
Die unglaubliche Intensität, mit der viele dieser Gesundheitsreligion anhängen, beweist, dass die Sehnsucht nach ewigem Leben die Menschen von heute genauso umtreibt wie ihre Vorfahren vor Zehntausenden von Jahren, die in den Höhlenzeichnungen Südfrankreichs ein Leben nach dem Tod beschworen. Nur möchte man heute das ewige Leben sozusagen im Diesseits, am besten auf Krankenschein.
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Gesundheit ist ein hohes Gut, aber eben nicht das höchste. Ich habe viele behinderte Freunde, die mehr Lebensfreude ausstrahlen als manche humorlosen Gesundheitsapostel, die auf irgendwelche Gesundheitsgurus schwören, sich mit schrecklichen Diäten kasteien und, den Tod im Nacken, mit hängender Zunge durch die Wälder hetzen, um dann am Ende eines mühevollen Lebens gesund zu sterben.