Kölner Chefarzt Martin Lütz beantwortet SinnfrageSollte ich aus der Kirche austreten?
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Der Kölner Chefarzt und Bestseller-Autor Manfred Lütz ist für seine scharfzüngige Meinung deutschlandweit bekannt.
So wettert er unter anderem gegen den Fitness-Kult und Diät-Sadismus. Aber der Psychiater gibt in seinen Büchern auch bewegende Einblicke in die Welt von Süchtigen, Depressiven und Schizophrenen.
In seiner KStA-Kolumne „Wahn und Sinn – das ganze Leben” antwortet Lütz jede Woche auf eine von Lesern gestellte Sinnfrage – diesmal zur katholischen Kirche.
Sie sind ja ein engagierter Katholik. Ich merke, wie die Skandale und die Berichte mich der Kirche immer mehr entfremden. Manchmal gehe ich in den Gottesdienst, nehme aber selten etwas mit, sondern empfinde das als Ritual – im schlechten Sinn. Sollte ich konsequenterweise austreten?
Sofort, selbstverständlich! Dann hätte die Kirche kein Geld mehr für unwissenschaftliche Missbrauchsstudien, für den ganzen unsinnigen innerkirchlichen Hickhack, für Funktionäre, die sich nur noch um sich selber kümmern. Aber Scherz beiseite, es gäbe dann auch kein Geld mehr für viele Menschen in Not, denen sonst niemand helfen würde, für die Verkündigung einer Botschaft, die nicht die Erfolgreichen, die Trumps, Dieter Bohlens und Heidi Klums mit all ihrem Zynismus in den Mittelpunkt stellt, sondern die Armen, die Schwachen, die Zukurzgekommenen, für den seelsorglichen Trost für Sterbende, Verzweifelte, aus der Bahn Geworfene. Wollen Sie das wirklich?
Es sind inzwischen Leute wie Gregor Gysi, die sagen, sie seien Atheisten, aber sie hätten Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne. Es gibt Gegenden, da hat sich diese Prophetie aus dem Jahre 2005 bereits traurig bewahrheitet. Und da ist es wichtig, Zeichen zu setzen. Wenn zum Beispiel der Erzbischof von Köln zu Fronleichnam auf einem Flüchtlingsboot vor dem Kölner Dom die Heilige Messe feiert, da bin ich auch mal stolz auf meine Kirche. Dieses Zeichen ging um die ganze Welt. Solidarität ist keineswegs selbstverständlich, im Gegenteil, die Sorge für die eigene Familie, für den eigenen Clan, für das eigene Volk allem voranzustellen und Fremden mit Vernichtung zu drohen, das war normal in den vorchristlichen Stammesreligionen.
Das Christentum brachte etwas Neues, etwas nicht Selbstverständliches, für die Christen waren alle Menschen vor dem einen Gott gleich und die Schwachen waren die Lieblinge Gottes. Fremdenherbergen bauten die Christen im frühen Mittelalter und auch Krankenhäuser sind christliche Erfindungen. Dieser humane Geist wärmt auch uns Heutige noch und das wissen sogar gebildete Atheisten.
Aber natürlich haben Sie recht, dass gerade deswegen das Entsetzen besonders groß ist, wenn man von den Skandalen der Kirche hört. Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester und evangelische Pastoren ist schlimmer als jeder andere Missbrauch, denn manche dieser jungen Menschen verlieren nicht nur das Vertrauen in Menschen, sondern auch in Gott. Aber auch wenn die Skandale erschütternd sind, auch wenn manche Bischöfe nach wie vor hilflos reagieren, es gibt genügend überzeugende Christen in dieser Kirche, die das Eigentliche des christlichen Glaubens ausstrahlen, in Köln zum Beispiel Pfarrer Franz Meurer, Schwester Ancilla, die Priorin des Kölner Karmel, oder diese Christin, die ihren schwer psychisch kranken Mann fast 50 Jahre lang rührend betreut hat.
Vor allem aber ist die Kirche ja nur Mittel zum Zweck, sie soll uns Gott näher bringen und dafür soll sie Räume schaffen, auch zeitliche Räume, in denen sie uns nicht dauernd zutextet, sondern in denen wir offen werden können für geistliche Erlebnisse, auch während eines starren jahrhundertealten Ritus, der uns nicht mit Neuigkeiten belästigt, sondern durch den hindurch wir ganz leise das Flüstern Gottes hören können – wenn wir hinhören.