- Am vergangenen Wochenende sind mehr als zehntausend Kölner zusammengekommen, um auf Demonstrationen ein starkes Zeichen gegen Rassismus zu setzen.
- Das Coronavirus allerdings war und ist nicht aus der Welt. Inwiefern werden sich die Demos auf das Infektionsgeschehen auswirken?
- Im Interview haben wir mit dem Kölner Infektiologen Gerd Fätkenheuer über dieses Thema gesprochen. Er kann sich unterschiedliche Szenarien vorstellen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind die neuen Daten wertvoll.
Herr Fätkenheuer, haben Sie sich am Wochenende an einer Anti-Rassismus-Demonstration beteiligt?
Nein, ich selbst war nicht demonstrieren. Obwohl ich mich den Demonstranten inhaltlich absolut verbunden fühle.
Können Sie nachvollziehen, dass Menschen trotz der aktuellen Situation auf die Straße gehen, um zu demonstrieren – oder halten Sie das für verantwortungslos?
Verantwortungslos würde ich es nicht nennen. Man hat als Mitglied einer Gesellschaft Verantwortung in mehrere Richtungen, das ist ja nicht eindimensional. Natürlich gibt es auch politische Verantwortungen und die Notwendigkeit öffentlicher Willensäußerungen. Aber: Es gibt auch eine gesundheitliche Verantwortung. Die Abwägung zwischen beiden ist aus meiner Sicht keine, bei der sich eine pauschale Antwort ergibt. Die Frage, ob es richtig ist, sich an einer solchen Demonstration zu beteiligen, kann nicht allein mit medizinischem Wissen beantwortet werden.
Nun ist dem Virus egal, worum es auf Demonstrationen geht. Ist es aus Ihrer Sicht wahrscheinlich, dass unter den Demonstranten auch einige Corona-Infizierte waren?
Ja, das halte ich für wahrscheinlich. Die Menschenmassen, die sich am Rheinufer dicht gedrängt versammelt haben, waren durchaus beachtlich – natürlich muss man davon ausgehen, dass sich unter den tausenden Demonstranten auch Corona-Infizierte befanden. Dadurch, dass viele Masken getragen und Abstände so gut es ging eingehalten haben, wird die Infektionsgefahr definitiv geringer. Daher halte ich es für zwingend notwendig, auch zukünftig auf diese Dinge zu achten. Gegen Null geht die Gefahr allerdings nicht.
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Gehen Sie davon aus, dass wir in den kommenden Tagen und Wochen deutlich höhere Infektionszahlen haben werden, die sich auf die Zusammenkünfte am Wochenende zurückführen lassen?
Auf jeden Fall gibt es eine große Gefahr, dass die Demonstrationen als Zündherde für eine Ausbreitung dienen können. Nun haben wir die Situation, dass Infektionsrate und Infektionszahlen in Köln sehr gering sind. Es ist also durchaus möglich, dass es nur sehr wenige Infizierte unter den Demonstranten gab. Außerdem fanden die Demos draußen statt – das ist infektiologisch etwas völlig anderes als eine Veranstaltung in der Lanxess Arena. Auch die Tatsache, dass die große Mehrzahl Masken getragen hat, ist sehr relevant. Verglichen mit der Heinsberger Karnevalshalle oder dem Göttinger Hochhaus sind die Faktoren sehr günstig. Wenn wir Glück haben, passiert fast nichts. Wenn wir Pech haben, war das der Startschuss für ein neues Infektionsgeschehen. Beides ist möglich.
In den letzten Wochen war immer wieder die Rede von möglichen „Superspreading“-Ereignissen. Fallen die Demonstrationen nach allem, was man heute weiß, unter diese Kategorie?
Grundsätzlich kann ein solches Ereignis ein „Superspreading“-Event sein, also eines, das Infektionszahlen explodieren lässt und uns in eine neue Bedrohungslage führt. Wichtig wäre in diesem Fall, dass Infektionen früh erkannt werden und Infizierte sofort in Quarantäne kommen. Wie groß der Effekt sein wird, können selbstverständlich erst die kommenden Woche und Monate zeigen.
Zuletzt zeigten sich Politiker und Virologen immer wieder besorgt, wenn es um Restaurant- und Schulöffnungen sowie Lockerungen bei Kontaktbeschränkungen ging. Die Infektionszahlen allerdings stiegen nicht an. Könnte also auch die Sorge um Demos unbegründet sein?
Der Vergleich ist schwierig. In den letzten Wochen haben wir immer mehr verstanden, dass es spezielle Ereignisse sind, die Infektionen begünstigen: In Kirchen, Hallen oder auf Schlachthöfen und in Hochhäusern. Auch bei den Demos sprechen wir von großen Veranstaltungen, die allerdings unter freiem Himmel stattgefunden haben. Es wird sehr spannend zu sehen sein, was in den nächsten Wochen passiert.
Angenommen, es wird nur wenige Infektionen geben: Könnten die bundesweiten Demonstrationen vergleichbar mit einer Studie als Grundlage dafür dienen, größere Veranstaltungen unter freiem Himmel grundsätzlich wieder zu erlauben?
Bei einer einzigen Demonstration würde ich sagen, dass die wissenschaftliche Aussagekraft nicht groß ist. Dadurch allerdings, dass in vielen verschiedenen Städten am gleichen Wochenende demonstriert wurde, kann man die Auswertung dieser Ereignisse durchaus als ungeplante Studie ansehen. Diese könnte sehr wichtige Aufschlüsse liefern – mitsamt der Konsequenz, dass weitere politische Lockerungen beschlossen werden könnten, wenn keine vermehrten Infektionen auftreten. Für mich zumindest wäre bei entsprechenden Auswertungen die Folgerung denkbar, dass man diese Art der Zusammenkunft bei vernünftigem Verhalten der Teilnehmer erlaubt.
Nun sind Demonstrationen nur bedingt verschiebbar, sie orientieren sich typischerweise am tagesaktuellen politischen und gesellschaftlichen Geschehen. Über Jahre wird man nicht davon abraten können, an großen Kundgebungen teilzunehmen.
Das ist richtig. Ich möchte klar herausstellen, dass die aktuellen Demonstrationen einen grundsätzlich anderen Charakter haben als ihn vergleichbare Ansammlungen im März gehabt hätten. Wir befinden uns aus guten Gründen nicht mehr in der Phase der großen Beschränkungen. Ich stimme zu, dass sich politische Kundgebungen nur bedingt verschieben lassen – und habe die Hoffnung, dass diese bald wieder ohne große Sorgen vor Infektionen stattfinden können.