„Schutz vor Überforderung“Warum wir das Coronavirus nicht mehr als Gefahr wahrnehmen
- Auch in Köln treffen sich immer mehr Menschen in Gruppen, große Demonstrationen finden wieder statt – obwohl die Corona-Gefahr längst nicht gebannt ist.
- Warum verhalten wir uns so – und nicht, wie noch vor einigen Wochen? Aus psychologischer Sicht ist die Entwicklung gut nachzuvollziehen.
- Wir haben uns mit dem Psychologen Peter Wehr über Pandemie-Müdigkeit unterhalten.
Köln – Herr Wehr, fällt Ihnen zu Hause langsam die Decke auf den Kopf?
Mir persönlich nicht. Ich gehöre zu den Menschen, die sich ganz gut mit den Corona-Maßnahmen arrangiert haben, und ich genieße sogar teilweise die Ruhe. Entschleunigung durch weniger Termine.
Über die schönen Sommertage haben viele jedoch weniger die Ruhe zu Hause gesucht, als den Kontakt zu Menschen. Die Parks und Plätze waren voll.
Das Bedürfnis, sich mit Freunden zu treffen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, die Sonne zu genießen, sich über das Schöne zu freuen, um mal das Virus zu vergessen, ist inzwischen sehr groß.
Ist der Wunsch nach Normalität so stark, dass man die immer noch vorhandenen Risiken der Pandemie vergisst?
Wir befinden uns immer noch in einer Übergangsphase zwischen der alten Normalität und unserer neuen Normalität - mit dem Coronavirus, zumindest bis es einen Impfstoff gibt, der eine neue Situation schaffen wird. Übergangsphasen tendieren dazu, labil, unsicher zu sein. Das Alte ist nicht mehr da, das Neue noch nicht so ganz da. In diesem Prozess des Lernens müssen wir nach und nach annehmen und verinnerlichen, dass die Hygienemaßnahmen und gewisse Einschränkungen noch lange notwendig sein werden. Denn wir wissen noch nicht, wann es einen Impfstoff geben wird. Und diese Ungewissheit schürt Unsicherheit. Deshalb ist bei vielen Menschen der Wunsch stark, in die alte, bekannte Normalität zurückzukehren. „Wir müssen die Anstrengungen der vergangenen Wochen endlich hinter uns lassen“, das höre ich oft. Ich kann das gut verstehen, auch wenn das nach aktuellem Stand erst einmal nicht möglich sein wird.
Die Menschen ignorieren die Gefahr, obwohl sie eigentlich um sie wissen?
Genau. Es ist anstrengend, die Belastungen auszuhalten, sich mit den immer komplexer werdenden neuen Informationen zu beschäftigen, im Berufsleben neue Prozesse zu finden, in den Schulen und Kindergärten umzudenken. Das geht so weit, dass manche sagen: „Für mich gibt es Corona nicht mehr.“ Einfach den Schalter umlegen und nicht mehr daran glauben. Immer mehr Menschen neigen dazu, die Situation zu verdrängen, weil sie den Bedürfnissen nach Sonne, Kontakten oder einer Urlaubsreise im Weg steht. Wenn die Sehnsucht nach Normalität so groß wird, entsteht mehr und mehr eine Tendenz, nicht mehr so genau hinzuschauen, weniger nach New York oder Brasilien, sondern lieber nach Schweden, wo es bisher kaum Einschränkungen gab. Dabei wird gleichzeitig ausgeblendet, dass die Zahlen auch dort sehr besorgniserregend sind.
Ist das Selbstschutz oder Erschöpfung?
Es handelt sich dabei um eine Art Schutz vor Überforderung und Erschöpfung. Ich denke in diesem Zusammenhang vor allem an Menschen, die sehr unter den bisherigen Einschränkungen leiden, wie alleinerziehende Mütter mit kleinen Kindern und Homeoffice, Familien in beengten Wohnverhältnissen und Menschen, die in finanzielle Not geraten sind. Menschen haben ein tief liegendes Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit. Und da passiert jetzt gerade etwas, das sie nicht beeinflussen können. Niemand kann vorhersagen, dass die Pandemie in fünf Monaten vorbei ist. Gelten die Hygienemaßnahmen vielleicht noch ein Jahr, noch zwei Jahre? Das ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar.
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Die Diskussionen um die Corona-Regeln werden hitziger, obwohl die meisten im Grunde wissen, dass sie notwendig sind. Verlieren die Leute die Nerven?
Wir sollten tatsächlich im Auge behalten, dass die Mehrheit der Menschen die Regeln immer noch als sinnvoll erachten. Die Gegenbewegung ist weitaus kleiner und es handelt sich dabei um eine sehr heterogene Gruppe. Es sind Menschen, die den Maßnahmen kritisch gegenüberstehen, es sind Verschwörungstheoretiker, es sind solche, die dort ein Ventil für ihre Wut finden und schließlich diejenigen, die extremen politischen Gruppen angehören und die aufgebrachte Stimmung für ihre politischen Zwecke nutzen. Es gibt immer noch diejenigen, die die Befolgung der Maßnahmen als sinnvoll erachten, weil sie betroffen sind, weil sie die Risikogruppen schützen wollen, weil sie sie einen Anstieg des Infektionsgeschehen vermeiden möchten. Und es gibt Andere, die sagen: „Ich kenne niemanden, der an Covid-19 erkrankt oder gar gestorben ist.“ Sie sind verunsichert, beginnen an der Gefährlichkeit des Virus zu zweifeln und ärgern sich über die Maßnahmen, die womöglich ihr Leben sehr verändert haben und finanzielle Einbußen mit sich gebracht haben.
Aber selbst die Lockerungen schaffen bei einigen offenbar kein Gefühl der Entspannung.
Mit dem Rückgang des Reproduktionsfaktors wurde die Verantwortung für den Umgang mit dem Infektionsgeschehen auf die Bundesländer übertragen. Dabei zeigten sich bei den Länderchefs unterschiedliche Haltungen, in der Art und Weise wie sie die Lockerungen durchführten und diese kommunizierten. Manche signalisierten mehr Vorsicht und andere weniger. Manche fokussierten dabei, wie sehr jetzt die Verantwortung für die Hygienemaßnahmen beim Einzelnen lägen, andere betonten mehr die Rückkehr zur alten Normalität und die wiedergewonnene Freiheit der Menschen. Denken Sie an die kürzlich beabsichtigten starken Lockerungen in Thüringen. Das verunsichert die Menschen, sie können nicht alles nachvollziehen. Und wenn sich die Corona-Situation jetzt teilweise entspannt, die Katastrophe nicht eingetreten ist, glauben immer weniger an die Gefährlichkeit des Virus. Dieses Phänomen ist aus früheren Pandemien bekannt. Man bezeichnet es als Präventionsparadoxon.
Was ist das Präventionsparadoxon?
Das Abwenden einer größeren Katastrophe durch Präventionsmaßnahmen führt dazu, dass man die Krise im Nachhinein als nicht mehr bedrohlich einschätzt oder gar nicht mehr daran glauben will. Anstatt sich klar zu machen, dass die Katastrophe – zum Beispiel ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems – gerade wegen der Präventionsmaßnahmen nicht eingetreten ist, denkt man vielmehr, dass die Maßnahmen gar nicht notwendig waren. „Wir haben mit den Corona-Einschränkungen die Wirtschaft kaputt gemacht, aber es ist doch gar nichts passiert“, heißt es dann zum Beispiel. Das rationale Denken setzt also ein Stück weit aus.
In der Corona-Krise mussten Politiker und Wissenschaftler manchmal ihre Meinung revidieren. Trägt das zu Verunsicherung bei?
Unsere Politiker sind, wie ich finde, unterm Strich mit der Krise sehr verantwortungsbewusst umgegangen. Sie haben auf Grund des Wissens, das zum jeweiligen Zeitpunkt da war, entschieden. Alle befinden sich in einem riesigen Lernprozess, ständig gibt es neue Erkenntnisse. Wer sich nicht fortlaufend informiert und nicht den neuestens Wissensstand kennt, kann neue und revidierte Entscheidungen nicht immer nachvollziehen. Und auch das trägt zu Verunsicherungen bei. Viele wünschen sich Sicherheit und Beständigkeit in Entscheidungen, die es derzeit nicht immer geben kann.
Gibt es einen Punkt, an dem auch die Besonnenen die Einschränkungen nicht mehr aushalten?
Es gibt natürlich individuelle Unterschiede in der Fähigkeit Belastungen auszuhalten und zu regulieren. Das ist abhängig von den bisherigen Lebenserfahrungen und den Stärken, die sich daraus entwickelt haben. Doch wenn die erlebten hohen Anforderungen, zum Beispiel beim Homeschooling und gleichzeitigem Homeoffice zu Überforderungen werden, kann jeder irgendwann an seine Grenzen kommen. Auch die materielle und berufliche Situation spielt dabei eine wesentliche Rolle. Wer durch die Corona-Krise in finanzielle Not geraten ist oder seinen Job verloren hat, der wird vermutlich schneller an seine Grenzen kommen als jemand, der weiterhin im Homeoffice arbeiten kann. Wenn die Bestätigung durch die Arbeit fehlt, wird dies zu einem Belastungsfaktor. Wenn der Stresslevel längerfristig zu hoch wird, wenn Überforderungen andauern, dann fällt es zunehmend schwer, besonnen zu reagieren, dann steigt die innere Spannung und damit auch das Aggressionspotenzial.
Was hilft denn dabei, einen klaren Kopf zu behalten?
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir noch eine Weile mit dem Virus leben werden. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wie lange diese Phase andauern wird, wissen wir nicht, vielleicht ein Jahr oder sogar zwei Jahre. Doch irgendwann wird auch diese Krise ein Ende finden, spätestens dann, wenn wir über einen Impfstoff verfügen. Auch das sollten wir nicht vergessen. Wenn wir im Blick behalten, dass die bisherigen Maßnahmen zur Senkung der Infektionszahlen geführt haben, werden wir das Empfinden für unsere Selbstwirksamkeit stärken. Das kann uns motivieren, weiterhin die Verantwortung für den Rückgang von Neuinfektionen mitzutragen. Dann kann es weitere Lockerung und Erleichterungen geben. Es ist wünschenswert, dass wir die neue Normalität, das Leben mit dem Corona Virus annehmen. Wir sollten auch annehmen, dass wir uns alle in einem Lernprozess befinden, der das Leben mit dem Virus immer wieder neu steuert und neu ausbalanciert. Auf der Basis von neuen Erkenntnissen. Dann werden wir neue Fähigkeiten entwickeln, die auch in der Zukunft nützlich sind und uns widerstandsfähiger machen.