Im Mainzer Hof in der Kölner Südstadt feiern Jecke jeden Alters zusammen – was für sie zählt, ist die Gemeinschaft.
„Magie ist stärker als Hass“Wie der Kölner Kneipenkarneval in unsicheren Zeiten zusammenschweißt

300 Jecke feiern im Mainzer Hof.
Copyright: Martina Goyert
„Wir haben uns kennengelernt und es hat Klick gemacht“, erzählen die vier Frauen, die um kurz nach zehn das Schlusslicht in der Schlange vorm Mainzer Hof bilden. Bekannt miteinander sind sie da zwar erst seit etwa 20 Minuten – dass sie bis zum Weiberfastnachtsmorgen noch nichts von der Existenz der jeweils anderen wussten, merkt man dem Quartett aus Bonnerinnen und Frechenerinnen aber nicht an.
Einig sind sie sich vor allem in einem Punkt: „Wer in der Umgebung wohnt, ist schön doof, an so einem Tag nicht nach Köln zu kommen.“ Und: Nach den vergangenen Wochen, geprägt von schockierenden Nachrichten und politischen Machtkämpfen, seien sie doppelt reif für den Fastelovend. „Heute geht es nicht um die ernsten Themen, sondern darum, gemeinsam zu feiern“, sagt Nathalie Strack (32). „Hier hält man sich den Platz frei und teilt sich das Kölsch“, egal ob jahrzehntelange Freundschaft oder spontane Leidensgenossinnen beim Warten auf den Einlass.
Kuschelkurs statt Ellenbogenmentalität
Trotz des Gedränges gelte heute keine Ellenbogenmentalität, sagt auch Steffi Heinze. Die 48-Jährige hat es zu diesem Zeitpunkt schon in das Innere der Kölner Südstadt-Kneipe geschafft. Schon vor 11 Uhr ist dort Kuschelkurs angesagt. Geduld (und vielleicht doch der ein oder andere vorsichtige Stupser) sind gefragt. „Aber alles ganz harmonisch“, sagt die Dellbrückerin. Der Mainzer Hof an Karneval, das sei wie Familie.

Gründeten jüngst ihre eigene Karnevalsgesellschaft: die KKG Rudeldiere.
Copyright: Martina Goyert
Mit einigen dieser Familienmitglieder hat sie vor gerade einmal einer Woche die KKG Rudeldiere gegründet, kennengelernt haben sie sich bei den Feiern der vergangenen Jahre. Wie offiziell das Projekt nun wirklich ist, geht im Karnevalslärm unter. Aber zumindest eine gemeinsame Whatsapp-Gruppe gibt es schon. „Spätestens 2030 wollen wir das Dreigestirn stellen, mit einer Frau als Prinz“, sagt Rudeldier-Kollege Tobias, mehr im Scherz. „Eigentlich“, sagt er, die Lockenwickler im Haar richtend, „wollen wir einfach nur Spaß haben. Die Welt retten wir heute nicht.“
Die Welt retten wir heute nicht
Den Anspruch haben wohl die wenigsten Jecken an diesem Tag. Im Gegenteil: „Den Alltag vergessen, mal rauskommen, keine Sorgen und kein Krieg“, das schätze sie an diesem Brauchtum, sagt Melanie Heisig (54), die sich abseits der engen Schunkelmasse eine kurze Verschnaufpause gönnt.
Während das Durchkommen im Laden immer schwerer wird, geht eines aber immer: Tanzen. Zu Räubers „Oben Unten“ sitzt die Choreografie bei so ziemlich allen Jecken. Mit etwas Fantasie hat das fast schon etwas Musicalhaftes. Spätestens zu AnnenMayKantereits „Tommi“ liegen sich Fremde und Fründe zum ersten Mal an diesem Tag kollektiv in den Armen. „Hück steiht de Welt still“ grölen rund 300 Karnevalistinnen und Karnevalisten anschließend im Chor.

Die Message von Julia Siemoneit (l.) und Karla Verlinden: „Magie ist stärker als Hass.“
Copyright: Martina Goyert
„Das hat etwas Eskapistisches“, sagt Julia Siemoneit. Die vergangenen Wochen hat die Therapeutin als traurig, deprimierend und hoffnungslos empfunden. Eigentlich beschäftige sie sich in ihrem Job mit irrationalen Ängsten, Furcht vor Spinnen zum Beispiel. Die aufkommenden Zukunftsängste, Demokratie und Klimawandel etwa, die werden aber immer realer. „Das bewegt mich schon.“ Freundin und Uni-Dozentin Karla Verlinden erzählt ähnliches: „Die Studierenden machen sich große Sorgen, sind angespannt. Wir haben in letzter Zeit viel über Politik geredet.“
300 Karnevalistinnen und Karnevalisten passen in den Mainzer Hof
So ganz gelingt den beiden die Alltagsflucht im Mainzer Hof nicht. Das ist aber vielleicht auch gewollt. „Im Karneval treffen zwei Welten aufeinander“, sagt Siemoneit. „Das Traditionelle, Erzkonservative und das Moderne: Man kann sich und seinen Anliegen Ausdruck verleihen.“ Genau das machen die beiden Frauen. Im gold-schwarzen Anzug und Sternenbrille verkleidet als Zauberduo „Siegfried und Joy“ halten sie ein Schild in die Höhe: „Magie ist stärker als Hass“, heißt es da.
Wir sind alle kostümiert, deshalb gehören wir alle zusammen
Und diese gewisse Magie, die dürften auch die Männer auf der Empore fühlen. „Es ist einfach genial, ein Glücksgefühl“, sagt der Hans-Süper-Gedächtnis-Verschnitt. Beim Blick auf die feiernden Menschen vor seinen Füßen, da gehe ihm „et Hätz op“.
Sascha, ein Matrose neben ihm, macht währenddessen Bekanntschaft mit Kapitän Efraim Langstrumpf. Sie leben an diesem Tag nach einer ganz simplen Devise: „Wir sind alle kostümiert, deshalb gehören wir alle zusammen.“ Nicht zu feiern sei in diesen Zeiten keine Lösung, sagt Sascha. Auf der Welt passiere immer irgendwas. Aber in Köln, „da ist irgendwann eben Karneval, von Spinnern lassen wir uns nicht unterdrücken“.

Neli und ihr Ehemann Markus
Copyright: Martina Goyert
Während Süper, Matrose Sascha und Pippis Vater von ihren ergatterten Premium-Plätzen weiterhin den Ausblick genießen, zieht es die ersten schon wieder vor die Tür. Zwei Väter treffen dort kurz ihre 17- und 18-jährigen Töchter. In den Mainzer Hof kommen Unter-20-Jährige heute nicht herein. Ansonsten ist das Publikum auffällig gemischt. Von Studierenden bis Menschen im Rentenalter scheint alles dabei. Lina und Hannah zieht es dafür in die Kneipe gegenüber. Für „Papa hallo sagen“ sei trotzdem Zeit. Familie, auch das gehöre zum Karneval dazu.

Töchter-Väter-Treff (v.l.): Hannah, Achim, Olli, Ingo und Lina vor dem Mainzer Hof.
Copyright: Martina Goyert
Ein paar Meter weiter erzählt Tugba (44) zwei Männern die Kennenlerngeschichte mit ihrem Mann. „Vor sieben Jahren war das, genau hier. Ich war das erste Mal in Köln, sprach kaum Deutsch. Ein Jahr später heirateten wir.“ Frauen würden im Karneval eher auch mal Männer ansprechen, sagt ihre Freundin Neli. „Die Hemmungen sind geringer.“
Generationenmix in der Südstadt-Kneipe
Bei aller Offenheit fällt der Kölnerin aber etwas anderes auf: „Ich bin hier die einzige Dunkelheutige heute. Köln ist multikulti, das ist eigentlich nicht normal.“ Doch sie sei es gewohnt, in der Minderheit zu sein, sagt sie und verschwindet wieder tanzend in der Kneipe. Dort nimmt die Luftfeuchtigkeit nun merklich zu. Durch die beschlagenen Fenster kann man schon lange nicht mehr schauen. Dumpf hallen die Musikfetzen nach draußen. Inzwischen ist es Mittag.
Nathalie Strack und die Gruppe vom Morgen stehen da immer noch in der Schlange. Zwei Stunden könnte es noch dauern, prognostiziert der Türsteher. Längst ist Einlassstopp in der Mainzer Straße. Zumindest sind sie auch beim Warten nicht allein.