„Weißer Holunder“Mitsingen ist Pflicht für Brauchtumspflege
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Innenstadt – „Das Gute bewahrt“ steht auf einem beleuchteten Reklameschild, unter dem lauthals gesungen wird: „Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit.“ Hansjörg zupft die Mandoline, Geli geigt, Gina und Annette spielen Akkordeon. Marilyn Monroe, Elvis und Sepp Herberger hängen auf brauner Tapete über holzgetäfelter Wand neben Reklameblech und anderen Relikten alter Zeiten.
„Och wat wor dat fröher schön doch en Colonia“ gehört zum Standardrepertoire genau wie „Heute hier morgen dort“. In der Kneipe „Weißer Holunder“ wird jeden Sonntagabend stimmgewaltig ein ganz eigener Volkslieder-Kanon gepflegt.
Wer wissen will, was dazu gehört, muss Erich Hermanns fragen: Vor ihm liegt ein mehrere Kilo schweres Ringbuch voller ausgewählter Texte. „Das ist die Bibel“, sagt Ino an der Gitarre. Beim „Dude Jüdd“ von Ostermann oder den Strophen von „Mir klääve am Lääve“ braucht das Volk Erichs Hilfe. „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ geht ohne Texthilfe.
„Heimatbesoffen und weltoffen, das ist in Köln bekanntermaßen kein Widerspruch“, sagt Jan Krauthäuser, der vor fast fünf Jahren zusammen mit den Holunder-Wirten Margot und Karl Schiesberg die Idee des „singenden Holunder“ in die Tat umsetzte. „Kölsch, bündisch, international“ ist das Motto der Mitsingkonzerte am späten Sonntagnachmittag in diesem ganz speziellen Ambiente an der Gladbacher Straße. Heute haben „Silke & Hoss“ „Lagerfeuer-Songs“ präsentiert – „hoch zu Ross oder im Müllemer Böötche“, wie es in der Ankündigung hieß. Nina Hagen und Rio Reiser trafen auf Höhner und Rolling Stones.
Nach den Konzerten übernehmen die Gäste das Regiment. Gepflegt wird „progressives Brauchtum“, sagt Krauthäuser. Dazu gehören das Schaffen der kölschen Dichter Karl Berbuer und Hans Knipp und Lieder von Hannes Wader oder „Simsalabim-Bambasala-Dusaladim“ von „Auf einem Baum ein Kuckuck“. Die beliebteste Schunkelnummer kommt von den Machern der Stunksitzung: „Dä Kommunismus, dä hät ene Rhythmus. Nur keine Hektik wegen der Dialektik: Venceremos, leev Jenossen, jetz jeit et loss!“
Efstathios, genannt „Filos“, hat sich hinterm Tresen bei der Wirtin untergehakt. „Hier wird jeder herzlich aufgenommen“, schwärmt er. Wenn er aufgefordert wird, als Grieche doch mal etwas Griechisches anzustimmen, singt er den Sirtaki von den Bläck Fööss: „Costa spellt Bouzouki, an der Quetsch do spellt der Hein, Mikis danz Sirtaki. Jeder föhlt sich wie doheim.“ In seiner Freizeit kümmert sich Filos um die 88-jährige Edelweißpiratin Mucki Koch, die in seiner Nachbarschaft wohnt. Im Holunder wird auch diese Kultur der unangepassten Jugendbewegung in der NS-Zeit gepflegt. „Übers gemeinsame Feiern und Singen kann eben auch gesellschaftliches Engagement entstehen“, sagt Krauthäuser, der das Edelweißpiratenfestival organisiert. Kultur habe immer auch etwas mit Politik zu tun.
So fanden sich auf Initiative des verstorbenen Edelweißpiraten Jean Jülich einige Kneipengäste als „Holunder-Singers“ zusammen, die seine und andere Lieder nun bei Festen, Konzerten und sogar Karnevalssitzungen vortragen. Eines ihrer Paradestücke ist Jülichs herrliche und viel zu selten gespielte Köln-Hymne „Du Paradies am Rhing, Colonia“.
Zwischen alter Musikbox, Billardtisch und zeitlos schönem 50er-Jahre-Mobiliar wird in der Kneipe ein drei Generationen übergreifendes Gemeinschaftserlebnis zelebriert – albern und ernst, fröhlich und traurig. Das Manisch-depressive ist ganz offensichtlich typisch kölsch, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt im Minutentakt. Vor ein paar Wochen hat eine Mitsängerin, die in hohem Alter jeden Sonntag mit der Bahn aus Höhenhaus angereist kam, ihren Freunden mitgeteilt, dass sie sterben wird und sich eine „fröhliche Gedenkfeier“ wünscht. An einem Sonntagabend sind die Lieder gesungen worden, die sie sich gewünscht hat.
Diese Kneipe sei ein „Raum für Melancholie“, sagt Stammgast Renate, bevor sich die 70-jährige Frauke zu einem allwöchentlichen Höhepunkt des improvisierten Volkslieder-Festes erhebt: „Oh Himmel, strahlender Azur! Enormer Wind die Segel bläh!“, singt sie Brechts Seeräuber-Ballade. Tränen und Bier fließen, während die Kneipe durch die Wellen von Heim- und Fernweh schaukelt. „Als ob sie, die zur Hölle rasten, noch einmal sangen, laut wie nie.“