AboAbonnieren

Einsamkeit, Alkohol, DrogenKölner Obdachlose erzählen, wie sie abgestürzt sind

Lesezeit 9 Minuten
arche nicole

„Nur weil man auf der Straße lebt, muss man doch nicht aussehen wie ein Schwein“, sagt Nicole.

  1. Kölner Wohnsitzlose und Bedürftige haben in einem Containerbau des Vereins Arche für Obdachlose e.V. eine neue Anlaufstelle in Mülheim.
  2. In den Lebensgeschichten der betroffenen Frauen und Männer geht es fast immer um erlittenen Verlust.
  3. Wir haben mit den Menschen gesprochen. „Sie hat mir immer wieder eine Chance gegeben, aber ich habe es verkackt", sagt zum Beispiel der 48-jährige J.J.

Köln – Mustafa ist häufig der erste. Schon eine halbe Stunde bevor sich mittags die Containertür öffnet, streift er durch den Mülheimer Stadtgarten und setzt sich an den Weiher. „Die Enten kommen immer zu mir“, sagt der gedrungene Mann mit einem Lächeln, das so sanft ist wie seine Stimme. Mustafa hat für die Tiere Haferflocken dabei, „die kosten nur ein paar Cent“. Sein eigenes Essen bekommt der 46-Jährige bei dem im 2021 gegründeten Verein Arche für Obdachlose, der primär wohnsitzlosen Menschen in Not hilft und in der Nähe des Wiener Platzes eine Anlaufstelle eingerichtet hat, wo es unter anderem ein warmes Mittagessen gibt.

Auf Mustafas medizinischer Akte stehen die Ziffern 001, was ihn ein wenig stolz macht. Dabei war es reiner Zufall, dass der Kölner gerade an dem Tag im Mai mit gesundheitlichen Beschwerden in den Containerbau kam, als dort die Arztpraxis in Betrieb genommen wurde. Mustafa hatte Probleme mit dem Kreislauf und erhöhte Zuckerwerte.

Arche mustafa sitzend

Mustafa gehört zu den Stammgästen. Er kommt als einer der ersten am Vormittag und bleibt oft bis zum Schluss um 17.30 Uhr.

Aber am meisten quält ihn nach wie vor ein Defizit, das niemand kurieren kann: Er ist allein. Er habe niemanden, sagt er. Weder Frau, noch Kinder, noch Familie, noch Freunde. Der einzige Ort, an den er sonst noch könne, sei das Klinikum Merheim. Weil er in frühen Jahren „zu oft ausgenutzt“ wurde, könne er keinem mehr vertrauen.

„Schon mit 14 Drogen konsumiert“

Mustafa ist anzusehen, dass er leidet. Nicht nur an Bluthochdruck und Diabetes, sondern vor allem an seelischer Trauer und Einsamkeit. Auch Nicole ist einsam. Aber sie überspielt es gut. Ursprünglich komme sie aus dem Erzgebirge, erzählt die lebhafte 47-Jährige. Dort sei es ihr zu langweilig gewesen. „Ich mag die Großstadt.“ Sie habe hier durchaus auch Bekannte, betont sie, aber keinen festen Wohnsitz. Wenn Nicole über ihr Leben spricht, bekommt man den Eindruck, sie habe zeitlebens vor allem eins getan: immer wieder versucht, sich aus dem Elend zu ziehen.

arche nicole

„Nur weil man auf der Straße lebt, muss man doch nicht aussehen wie ein Schwein“, sagt Nicole.

„Ich habe schon früh gesoffen, mit 14 Drogen konsumiert. Mal dies, mal das – was man halt so kriegt auf dem Markt.“ Irgendwann sei sie clean gewesen, aber dann habe sie wieder angefangen zu saufen… Heute sei es „mal so, mal so“ aber sie habe es gerade ganz gut im Griff. Nicole trägt einen fast elegant wirkenden, kamelhaarfarbenen Wollmantel mit einer goldenen Anstecknadel unterhalb des Revers. Aus ihrem dunklen, schulterlangen Haar ragt keck eine Feder empor. „Das ganze Geklimper“, wie sie ihre glitzernden Halsketten nennt, habe sie sich kürzlich auf dem Trödelmarkt gegönnt. „Zehn Euro gut investiertes Geld!“, meint sie und lacht. „Nur weil man auf der Straße lebt, muss man doch nicht aussehen wie ein Schwein. Man will sich ja ein bisschen wohlfühlen!“

„Fühle mich aufgehoben hier“

Während sie ein Stück Bockwurst abschneidet, lobt sie die Einrichtung. „Ich fühle mich ein bisschen aufgehoben hier. Ich kann Wäsche waschen, mir ein paar neue Sachen mitnehmen. Und man ist mal mit anderen Leuten. Nicht nur mit Leuten, die saufen und konsumieren.“ Denn in dem Umfeld esse sie selber kaum und schlafe schlecht. „Aber hier ist es cool. Manchmal sind viele Leute hier, dann ist ein richtiges Geschnatter.“

Dieter, der Mann am hintersten Tisch des Container-Speiseraums, wirkt nicht, als wenn ihm der Sinn nach Geschnatter stünde. Der 57-Jährige ist ein sehr kräftiger Mann mit wuscheligen grauen Haaren, der einem Fremden gegenüber erstmal die Stacheln ausfährt, dann aber Vertrauen fasst. Dieter hat riesige Hände und eine auffallend gepflegte Ausdrucksweise. „Das ist das Einzige, was ich meiner Mutter zugute halten muss.“ Sie habe immer gesagt: „Junge, lern‘ richtig zu reden und zu schreiben. Das wird dich später weiter bringen.“ Dieter erzählt von seinen unterschiedlichsten Jobs, zuletzt als Zweiradmonteur. Man glaubt ihm sofort, dass er handwerklich Einiges drauf hat. „Aber im Moment hat es mich richtig erwischt.“

„Ich hatte danach keinen Antrieb mehr“

Es dauert ein wenig, bis Dieter seinem Kummer freien Lauf lässt; von dem Freund erzählt, mit dem er 18 Jahre zusammen gewohnt – und der sich „zu Tode gesoffen“ habe. Er hätte nie gedacht, dass ihn das so aus der Bahn werfen würde, sagt Dieter. „Aber ich hatte danach keinen Antrieb mehr. Ich wollte selber nicht mehr.“ Dabei sei er vorher clean gewesen. Und gesund. „Und dann habe ich wieder mit Drogen angefangen. So eine Scheiße! Weißt du, was die Scheiße ist? Dieses Alleinsein. Daran geht die Gesellschaft kaputt!“

Auf Dieters Platz hat zuvor ein auffallend attraktiver Mann gesessen mit akkurat gestutztem Bart und sportlicher Figur. „Die Leute sagen all, dass ich nicht hierher gehöre. Aber das Äußere zählt nicht, es zählt nur das Seelische“, erklärt der Mann in Lederjacke. Wenn man den 48-Jährigen fragt, weshalb er seinen Kaffee in der Obdachlosen-Anlaufstelle trinkt, wird seine Stimme brüchig. „Ein Schicksalsschlag – um es kurz uns bündig zu sagen.“ Er habe einen richtig guten Job gehabt, zuletzt als Industrie-Kletterer. Der Mann hat Tränen in den Augen, als er davon erzählt, dass ihn seine Frau rausgeschmissen hat. „Sie hat mir immer wieder eine Chance gegeben. Ich habe es verkackt! Ich bin richtig sauer auf mich!“ J.J. nimmt einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. „Wenn ich anständig bleibe, darf ich die Kinder sehen.“ Anständig heißt für ihn: nüchtern. „Ich verfluche die Aktionen, wenn ich trinke. Man muss sich um ein strukturiertes Leben bemühen. Und das tue ich. Ich muss für meine Tochter da sein.“

Immer wieder geht es um Verlust

So sehr sich die Menschen in diesem Raum unterscheiden – sowohl äußerlich als auch vom Temperament und von ihrem Wesen, so sehr scheinen sich die Steine zu ähneln, über die sie auf ihrem Lebensweg gestolpert sind. Immer wieder geht es um Verlust: Verlust des Partners oder der Bezugsperson, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust des Zuhauses, Verlust von Vertrauen – in andere, aber vor allem in sich selbst – Verlust von Würde. Irgendwann ist der einzige Halt die Flasche oder die Droge.

arche Ali

Ali schämt sich, dort gelandet zu sein, wo er ist.

„Ich trinke, um mich zu betäuben“, sagt Ali und hält die Hände vors Gesicht. Zum einen, um von niemandem auf dem Foto erkannt zu werden, aber wohl noch mehr, weil er sich schämt. „Man bleibt lieber hungrig als hierher zu kommen, aber dann übermannt einen doch der Kohldampf.“ Als ihm die Leute vom Wiener Platz von dieser nahegelegenen Einrichtung berichtet hätten, sei er erstmal „ganz hinten gegangen, damit mich keiner sieht. Dabei ist das, was die hier machen, so cool. Und man wird wenigstens einmal am Tag satt.“

„Ich hatte mal ein richtig gutes Leben!"

„Willste auch’n Kaffee? Milch? Zucker?“, fragt der 54-Jährige fast fürsorglich und ist bereits aufgesprungen. Mit einem Becher in der Hand redet es sich leichter. „Ich hatte mal ein richtig gutes Leben“, stellt Ali fest. Nach der Lehre war er 28 Jahre bei Bayer als Hochdruckrohrschlosser angestellt. „Da arbeitest du mit bis zu 300 bar. Dabei können drei bar bereits einen Menschen töten.“ Dann sei es passiert, von einem Tag auf den anderen. „Das komplette Programm. Erst die Frau weg. Dann hab ich mich hängen lassen, weil ich fix und fertig war. Dann war der Job weg. Der Absturz kann sehr schnell gehen!“ Nach dem Umzug von Leverkusen nach Köln sei es wieder bergauf gegangen, berichtet der Mann mit dem schwarzen Baseball-Käppi. Drei Jahre bei der Drogenhilfe mit Null-Toleranz-Konzept, das habe ihm geholfen. Er bekam einen Job und damit neue Zuversicht. Und dann „bin ich betriebsbedingt mit fünf anderen gekündigt worden. Jetzt bin ich wieder unten.“

Was schmerzt am meisten? – „Die Einsamkeit“, sagt Ali. „Hier sind alle einsam. Viele denken, man ist untereinander befreundet. Aber das stimmt nicht.“ Der 54-Jährige lebt nicht auf der Straße, sondern hat eine Wohnung. „Fragt sich nur, wie lange noch.“ Plötzlich tritt ein Lächeln in sein Gesicht. „Ich hatte meine Motivation verloren, weißt du? Aber jetzt ist sie wieder da!“

„Bei mir muss jeder Bissen gleich schmecken“

An einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand sitzt Waldemar. Schon seit Stunden. Er redet nicht, aber er lächelt, wenn man ihn freundlich anspricht. Waldemar ist 65 Jahre, trägt ein blitzsauberes dunkles Sakko und ein hellblaues Oberhemd. An einem Stuhlbein lehnt eine Ledertasche. In der entgegengesetzten Ecke hat sich Patrick seinen Platz gewählt. Der 37-Jährige hat seine Brühwurst in exakt gleich große Stücke geschnitten und diese mittels eines Tütchens Ketchup zusammen mit dem Kartoffelsalat zu einer Art altrosafarbenem Gulasch verrührt. „Bei mir muss alles homogen sein und jeder Bissen gleich schmecken“, unterstreicht der Mann aus Kalk. „Das war schon als Kind so. Aber mehr will ich jetzt nicht sagen“, erklärt er plötzlich barsch, steht abrupt auf und geht.

Das könnte Sie auch interessieren:

Nicole sitzt weiterhin an ihrem Tisch und spricht mit sich selbst. Erzählt von ihrem letzten Urlaub vor 28 Jahren zusammen mit ihrem Traummann. Plötzlich kommt Bewegung in den Raum. Ein kniehoher Hund mit wuscheligem Fell macht sich bellend bemerkbar. Er gehört zu einer Frau im Rollstuhl, die ebenfalls Nicole heißt. Sie hat kürzlich sechs Wochen im Krankenhaus gelegen wegen ihrer offenen Beine und Rückenproblemen. Nicole trägt eine eine rote Windjacke, ein T-Shirt mit Strass-Aufdruck. Die Haare der 44-Jährigen sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihr blasses Gesicht wirkt müde und alt. „Ich bin sehr froh, dass ich hier hinkommen kann. Ich kann nicht so lange stehen und kochen. Und ich bin auch finanziell nicht so gut gestellt.“

arche Deniz

„Ich finde es super, dass man hier eine Anlaufstelle hat und Essen kriegt und eine Apfelschorle für 1,75 Euro“, sagt Deniz.

Ohne den 52-jährigen Deniz, der ihr gegenübersitzt, wäre sie aufgeschmissen. Die beiden lernten sich vor vier Jahren am Wiener Platz kennen – „durch die Hunde“– und leben heute als Freunde in einer WG. Deniz war früher Fahrradmechaniker und Karosseriewerkshelfer. Heute hilft er Nicole bei vielen Dingen, auch beim Anziehen. Eigentlich gehöre sie in ein betreutes Wohnen, meint er, aber das wolle sie wegen ihres Vierbeiners nicht.

„Alkoholiker und Junkies verstehen sich nicht“

„Ich finde es super, dass man hier eine Anlaufstelle hat und Essen kriegt und eine Apfelschorle für 1,75 Euro“, sagt Deniz. Er hofft, dass sich die Leute „das hier nicht selber versauen, und dass es friedlich bleibt. Alkoholiker und Junkies verstehen sich nicht, weißt du. Die kommen untereinander nicht klar. Dabei sitzen wir alle in einem Boot. Sucht ist Sucht. Die kann jedem passieren. Da sind ja auch Ärzte und Schauspieler drunter.“

Schräg gegenüber aus der Küche hört man Geschirr klappern. Fabian Daniels vom Sozialdienst Katholischer Männer (SKM) und zwei Sozialarbeiter, eine studentische Aushilfe sowie Arzthelferin Andrea kümmern sich darum, dass in dem 156 Quadratmeter großen Containerbau der Versorgungsbetrieb reibungslos läuft: Essensausgabe, Verteilung frischer Kleidung und vor allem die drei bis fünf Sozialberatungen täglich, die nach Auffassung von Bram Gätjen mit das wichtigste Angebot darstellen. „Unser Ziel ist es, die Obdachlosigkeit zu verkürzen, und nicht, sie ein wenig erträglicher zu machen“, betont der Geschäftsführer des Vereins Arche für Obdachlose.

Der Verein sponsert das Mittagessen

Gätjen ist stolz, dass es mit viel bürgerschaftlichem Engagement gelungen ist, „innerhalb von kurzer Zeit in Mülheim eine Infrastruktur geschaffen“ zu haben, was der Stadt Köln nicht gelungen sei. Dass inzwischen 30 bis 40 Gäste täglich am Container versorgt und durch das persönliche Mitwirken von Professor Mark Oette, Chefarzt am „Severinsklösterchen“, und dem vom ihm gegründeten Verein Caya auch medizinisch versorgt werden könnten, mache diese Einrichtung zu einem „Leuchtturmprojekt“, das er sich auch für andere Stadteile wünsche. Momentan sponsert die Arche für Obdachlose jedes Mittagessen mit vier Euro und ist demzufolge auf Spenden angewiesen. „Unser Ziel ist es, dass die Stadt die laufenden Personalkosten übernimmt“, so Gätjen.