Köln – Immer wieder wird Leonardo Martinez von Bildern seines früheren Lebens eingeholt. An der Wand über dem Bett seines Zimmers im Altenzentrum St. Maternus in Rodenkirchen hängen Fotos von Familie und Freunden, eines zeigt den jüngeren Leonardo Martinez mit der Schriftstellerin Isabelle Allende, die er „eine gute Freundin“ nennt. Der 86-Jährige blättert in einem Fotoalbum, findet ein Bild von sich als neunjähriges Kommunionkind. Auf dem Foto ist auch eine kleine Skulptur der Heiligen Maria zu sehen. Er sagt: „Schauen Sie mal aus dem Fenster, nach rechts.“ Im Garten steht ebenfalls eine Marienskulptur. „Bilder helfen mir, mein Leben zu sortieren und Bezüge herzustellen“, sagt er.
Martinez hat ein Buch mit dem Titel „Wenn die Erinnerung mich nicht trügt“ geschrieben; im Alter, wenn sich das Leben auf die Vergangenheit stützt, sei das ein passender Titel, findet er. Und erinnert sich an eine Demonstration im September, an der er teilnahm, um auf das Thema Demenz aufmerksam zu machen.
Kölner Senior bezeichnet Corona als „Tragödie von biblischem Ausmaß“
Während der Corona-Pandemie musste Leonardo Martinez, der Anfang Januar geimpft wurde, immer wieder in Quarantäne – viele Wochen hat er im vergangenen Jahr allein in seinem Zimmer verbracht. Die Einsamkeit am Ende des Lebens von Menschen auf der ganzen Welt nennt er „eine Tragödie von biblischem Ausmaß“. Er selbst hat versucht, die Isolation auch als Chance zu sehen – um die Bilder seines Lebens zu ordnen und im Kleinen das Bedeutende zu sehen. Die liebevoll gepflegten Zimmerpflanzen vor dem Fenster zählt er dazu, die Telefonate mit Bekannten aus seiner Zeit als Angestellter bei den städtischen Bühnen und Journalist bei der Deutschen Welle, und die Gespräche mit Pflegerinnen, „die viel tiefer gehen als vor der Krise“.
Beim Sortieren seiner Lebensbilder hat Martinez eine Virtual-Reality-Brille geholfen, eine klobige Maske wie aus einem frühen Science-Fiction-Film, mit deren Hilfe und der Software „Google Earth“ er in seine Heimatstadt Antofagasta in Chile gereist ist – und dort nach einigem Suchen sogar sein Geburtshaus entdeckt hat. „Die Technik gibt mir die Gelegenheit, mein Leben wie unter einer Lupe zu sehen“, sagt Martinez, der seit gut einem Jahr nicht mehr laufen kann. „Es ist, als hätte ich dadurch eine neue Sprache gelernt und gleichzeitig meine Jugend zurückgeholt.“ Durch die Digitalbrille zu sehen, dass die alte Holztür seines Geburtshauses inzwischen hellblau gestrichen worden ist, „ist natürlich eine Katastrophe“, sagt der 86-Jährige lächelnd.
Kölner Senioren spielen auch X-Box
Sozialarbeiterin Alexandra Kasper betreut das Projekt mit den Virtual-Reality-Brillen in dem Pflegeheim der Caritas bereits seit 2018. Rund die Hälfte der 115 Heimbewohner habe die Brille ausprobiert, sagt sie. „Die meisten möchten gern an Orte ihrer Kindheit und Jugend reisen. Auch bei Menschen mit demenziellen Veränderungen helfen bekannte Bilder oft, sich zu erinnern – an einen Marktplatz, ein Café oder den Fluss, an dem sie früher gespielt haben.“
Leonardo Martinez ist einer der neugierigsten Nutzer der Brille – er hat sich mit Hilfe eines Computerprogramms auch schon in einem Bild von Vincent van Gogh bewegt – und er versucht, immer neue Puzzleteile aus seinem früheren Leben zusammenzusetzen.
Flucht vor der Polizei
Digital ist das Seniorenzentrum St. Maternus auch sonst gut aufgestellt: „Gar nicht wenige unserer Bewohnerinnen und Bewohner nutzen auch gern unsere X-Box, Autorennen sind beliebt, aber auch das Spiel Super Mario“, sagt Alexandra Kasper. „Beim Autorennen freuen sich die Bewohner vor allem, vor der Polizei zu fliehen und die Autos kaputt zu fahren.“
Da der Controller für viele zu schwer zu bedienen ist, hat Digitalcoach Kasper leicht bedienbare Buttons gelötet. „Wir nennen das barrierefreies Gaming“, sagt sie. Wenn nicht gerade eine Pandemie ihr Unwesen treibt, führen Virtual-Reality-Brille und X-Box dazu, „dass die Enkelkinder unserer Bewohner oft gar nicht mehr wegwollen aus dem Heim. Und das ist doch eher ungewöhnlich".