Kölns Kripochef spricht von „einer neuen Dimension der Gewalt im Bereich der organisierten Kriminalität“. Wer hinter der Bande steckt und was sie vorhat.
Geiselnahme und Explosionen in KölnVideo dokumentiert brutale Folter – Polizei besorgt wegen Ausbreitung der „Mocro-Mafia“
Die Einsatzlage schien ernst wie seit Jahren nicht mehr in NRW. Ein Sprengstoffanschlag vor einer Shisha-Bar in der Kölner Keupstraße weckte bei den Bewohnern schreckliche Erinnerungen an das rechtsextremistische Bombenattentat 20 Jahre zuvor in der überwiegend von Menschen mit türkischer Geschichte bewohnten Geschäfts- und Restaurantmeile.
In Köln-Buchheim, Engelskirchen und Duisburg gingen ebenfalls Sprengsätze hoch. Ein Attentäter starb in Solingen durch sein eigenes Schwarzpulver-Laborat. Dahinter steckten offenbar Drogenhändler der sogenannten „Mocro-Mafia“ aus den Niederlanden. Die Anschläge, so erfuhr der „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus NRW-Sicherheitskreisen, waren als Warnungen gedacht. Die Gangster mit überwiegend marokkanischen Wurzeln suchten nach jenen Dieben, die Kölner Geschäftspartnern 300 Kilogramm Marihuana aus einer Lagerhalle in Hürth geraubt hatten. Dabei hatten sie Wächter der rheinischen Bande überfallen. Die 1,5 Millionen Euro für den Stoff wollten die Drogenlieferanten mit rabiaten Methoden wieder eintreiben.
Suche nach Dieben führte zu arabischer Großfamilie
Durch die Attentate erhöhten sie den Druck auf jene Rauschgift-Bande, die den Stoff verloren hatte. Die Suche nach den Dieben führte zu einer arabischen Großfamilie. Vergangenen Donnerstag wurden ein Mann des Clans und seine Cousine in Bochum gekidnappt. Beide, so stellte sich heraus, stammen ebenfalls aus der Rauschgift-Szene. Die Täter transportierten die Geiseln nach Köln-Rodenkirchen in eine Villa. Im Keller begannen sie mit ihrer Folter.
Ein Video, das dieser Redaktion vorliegt, dokumentiert die brutalen Misshandlungen. Am Boden liegt ein nackter Mann, zahlreiche Hämatome übersäen seinen Körper, eine Maske verdeckt sein Gesicht, die Hände sind mit Kabelbindern gefesselt. Immer wieder schlagen die Geiselnehmer auf ihn ein, fragen nach seinen Verwandten, nach den Anführern der Familie, wo sie wohnen, wo sie leben.
Die Einsatzlage verschärfte sich zusehends. Eine Todesdrohung für eine der entführten Personen kursierte. Die Familie der Geiseln erhielt ein Ultimatum: Entweder das Geld, die Drogen oder aber einer der beiden Entführten müsse sterben. Schließlich soll in Köln-Kalk eine Geldübergabe stattgefunden haben. Denn noch vor dem Ablauf des Ultimatums verschwanden die drei holländischen Auftraggeber der Entführung in ihre Heimat. Dort verloren die Verfolger ihre Spur.
Freitagabend schlug ein Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei zu, befreite die Geiseln und nahm vier bewaffnete Kidnapper fest. Etliche Pistolen wurden sichergestellt. Ob die zwei Geiseln einer kriminellen Großfamilie angehören, ist noch nicht ganz klar.
Mit Blick auf die aktuelle Einsatzlage sprach Kölns Kripochef Michael Esser auf Anfrage von „einer neuen Dimension der Gewalt im Bereich der organisierten Kriminalität, die es so hier in Deutschland meines Wissens noch nicht gegeben hat“. Es handele sich um einen der komplexesten Einsätze der NRW-Polizei aus den vergangenen Jahren. Bei der Geiselbefreiung sei es zu „extremsten Bedrohungsszenarien“ gekommen, führte der Leitende Kriminaldirektor aus. „Wir mussten sogar annehmen, dass Maschinenpistolen eine Rolle spielten.“ Man habe damit rechnen müssen, dass die Täter die Geiseln umbringen würden. Drei Tatbeteiligte habe man entkommen lassen, um das Leben der Geiseln zu schützen.
Kölner Kripochef: „Glücklicher Zufall“, dass niemand verletzt wurde
Esser registriert Gewalttaten in dieser Dimension zum ersten Mal. „Das ist auch der Bereich, der uns sehr sensibel werden lässt“, erklärt der Leitende Kriminaldirektor. „Die Sprengmittel, die hier in Köln eingesetzt worden sind, haben Gott sei Dank zu keinen Verletzungen geführt.“ Das sei aber auch einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, weil zum Zeitpunkt der Detonation gerade niemand im Hausflur gewesen sei. „In den Niederlanden wird auch keine Rücksicht auf Unbeteiligte genommen, da werden auch Unbeteiligte teilweise lebensgefährlich verletzt oder gar getötet.“
So heuert die Mocro-Mafia junge Männer aus sozialen Brennpunkten für 500 Euro an, um Sprengstoffattentate durchzuführen. Vermutlich gehörte auch der 17-jährige Niederländer dazu, der am 25. Juni in Solingen starb, als er vor einer Shisha-Bar einer arabischen Großfamilie einen Sprengsatz zündete. Nach Ansicht der Ermittler passt das Attentat in die Anschlagsserie der Mocro-Mafia und ihrer geklauten Ware. Denn die Bauart der Sprengkörper in der Keupstraße und in Solingen gleichen sich.
Mocro-Mafia nutzte Liberalisierung der Drogenpolitik in den Niederlanden
„In den Niederlanden ereignen sich solche Attentate zu Hunderten pro Jahr“, weiß Oliver Huth, NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Dem Mocro-Boss Ridouan Taghi, der im Februar zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, schreibt die Justiz sechs Auftragsmorde und vier Mordversuche zwischen 2015 und 2017 zu.
Die Staatsanwaltschaft sprach beim Prozess gegen Taghi von einer „gut geölten Killermaschine.“ Es war der umfangreichste Mordprozess der niederländischen Geschichte. Im Zentrum des Prozesses stand dabei die Aussage des Kronzeugen Nabil B, der im Tausch für eine Strafminderung ausgesagt hatte. Seine Aussage führte zu einer beispiellosen Gewaltwelle, bei der dessen Bruder, sein Anwalt und seine Vertrauensperson, der Journalist Peter R. de Vries, ermordet wurden.
Insgesamt schreiben Ermittler der Mocro-Mafia mehr als 70 Auftragsmorde zwischen 2012 und 2023 zu. Auch Ex-Ministerpräsident Mark Rutte und Kronprinzessin Catharina-Amalia wurden von der Mocro-Mafia bedroht, offenbar um führende Köpfe wie Taghi freizupressen.
Den Namen haben die Banden vom niederländischen Slangwort für Marokko. Experten sehen den Aufstieg der Mocro-Mafia im Zusammenhang mit der Liberalisierung der Drogenpolitik in den Niederlanden in den 1970er Jahren. Zwar wurde der Verkauf von Marihuana in Coffeeshops erlaubt, nicht aber der Anbau und Ankauf. Über die großen Seehäfen bauten die Dealer ein gut organisiertes Vertriebsnetz auf. In den 1990er Jahren stiegen sie dann zunehmend auf den Handel mit Kokain um. Experten befürchten nun, dass Banden wie die Mocro-Mafia nach der Teillegalisierung von Cannabis ihr Geschäft auch nach Deutschland ausweiten könnten. Experten der Organisierten Kriminalität befürchten, dass die Gewaltspirale aus den Niederlanden künftig verstärkt nach Deutschland schwappt.