Der Kölner Sozialethiker Uwe Becker spricht über das vermeintliche Paradox, warum Menschen für Geflüchtete auf die Straße gehen, aber auch für eine strengere Asylpolitik sind.
Ethiker über Folgen der Kölner Silvesternacht„Wir haben die Ertrinkenden zur Flut gemacht“
Herr Becker, Millionen Menschen gehen in Deutschland gegen Rechtsextremismus auf die Straße, es gibt eine große Sorge vor einem weiteren Erstarken der AfD, andererseits stimmt eine breite Mehrheit der Gesellschaft einem schärferen Asylrecht zu. Scheinbar ein Paradox. Wie passt das zusammen?
Bei dem rechten Verschwörungstreffen in Potsdam ging es auch um den syrischen Arbeitskollegen, die türkische Nachbarin, den marokkanischen Kinderarzt oder die griechische Freundin meiner Tochter. Mehr als 23 Millionen Menschen in Deutschland haben Migrationshintergrund, fast 30 Prozent der Bevölkerung, in Köln ist der Anteil noch höher. Wenn AfD-Leute jetzt mit anderen Rechtsextremen darüber schwadronieren, dass deren Ansiedlung in Deutschland „rückabgewickelt“ werden soll, offenbart sich unverblümt deren brutale und menschenverachtende Strategie. Und das regt Protest und Solidarität, letztere gilt aber nicht unbedingt Geflüchteten. Während Millionen von Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben, für viele selbstverständlich zu unserer Gesellschaft gehören, wird diese Zugehörigkeit den meisten Geflüchteten nicht zugestanden. Es geht immer wieder um diese Trennlinie zwischen „uns“ und den „anderen“.
Und Potsdam empört verständlicherweise viele Menschen, weil es um „uns“ geht?
Empörung über vermeintliche Missstände zu instrumentalisieren, ist eigentlich das Kerngeschäft von Populisten und Extremisten – die AfD beherrscht das extrem gut. Das war bei den Protesten der Bauern so, bei einer Bewegung gegen das Heizungsgesetz, beim Thema Mietpreissteigerung, auch bei Corona. Immer geht es um vermeintlichen sozialen Abstieg. Die AfD schafft es, lose verbundene Empörungsinseln zu einem Festland zu machen. Jetzt ist diese Empörung umgeschlagen und richtet sich gegen die Rechtsextremen – weil vielen plötzlich klar ist, dass deren Anhänger unverhohlen diejenigen verachten, die „zu uns“ gehören. Es ist vielen klarer geworden, dass wir es mit Feinden der Demokratie zu tun haben.
Empörung ebbt in der Regel schnell wieder ab – um nationalistische und populistische Tendenzen zu stoppen, wird sie nicht reichen …
Empörung ist ein kurzweiliger Gemütszustand. Aber durch die Begegnung von Menschen bilden sich gerade viele Netzwerke, die breite Akzeptanz finden. Konzerne tun sich zusammen, Sportvereine, Verbände, Nachbarn basteln zusammen Plakate – alle positionieren sich gegen Demokratiefeindlichkeit und Rechtsextremismus. Dadurch prägt sich ins kollektive Gedächtnis ein, dass wir mehr sind. Die Demonstrationen erzeugen Selbstwirksamkeit: Wir sind politisch, wir können etwas bewegen. Viele Menschen überlegen gerade, wie sie sich vor Ort weiter engagieren können.
Asylrecht: Gilt die Solidarität der Deutschen nicht für alle Geflüchteten?
In Ihrem Buch „Deutschland und seine Flüchtlinge“, in dem sie besonders die Reaktion auf die Kölner Silvesternacht analysieren, aber auch die öffentliche Debatte nach dem Ausbruch des russischen Kriegs gegen die Ukraine, schreiben Sie, dass die Solidarität nicht allen Geflüchteten gleichermaßen gilt.
2015, als viele Menschen aus Syrien und Afghanistan kamen, war die Rede vom „arabischen Mann“, jetzt ist es der „illegale Migrant“. Diese latente Kriminalisierung von Geflüchtetem schafft ein Bedrohungsklima. Wir machen aus den Ertrinkenden die Flut. Damit wird die massive Abschottung gegenüber Geflüchteten legitimiert: Es sind Tausende, die jährlich im Mittelmeer ertrinken. Es herrschen unmenschliche Zustände in den gefängnisähnlichen Massenlagern auf den ägäischen Inseln. Die Praxis der völkerrechtswidrigen Push Backs wird immer mehr zur Routine. Das alles nehmen wir hin, weil das Bedrohungsempfinden allmählich zu unserer psychischen Innenausstattung wird, die Empathie stumpft dabei ab.
Menschen haben – zum Glück – die Fähigkeit, nicht alles Leid an sich heranzulassen. Und sind nicht tatsächlich Kapazitätsgrenzen erreicht? Viele Kommunen stöhnen schon lange, sie seien an der Belastungsgrenze, auch Köln.
Der Begriff Belastungsgrenze kommt aus der Medizin – die Übertragung ist schwierig, weil sie suggeriert, da sei ein komatös bedrohter Körper, der Kreislaufschwierigkeiten hat und gleich zusammenbricht. Natürlich gibt es erhebliche Probleme, auch in Köln. Ich war mal Mitglied am Runden Tisch für Migration in Köln und Mitglied der Kölner Armutskonferenz, das Thema Kapazitäten war schon vor 20 Jahren Thema, auch Anfang der 1990er Jahre, als das ehemalige Jugoslawien zusammengebrochen ist. Als 2015/16 die Geflüchteten kamen, habe ich gesagt: Liebe Kommunen, stellt Euch bitte darauf ein, dass die geschaffene Infrastruktur der Flüchtlingsunterbringung nur ein Einstieg ist, dass wir die Strukturen langfristig brauchen werden. Das haben viele Kommunen leider nicht geglaubt und zurückgebaut.
Also: Wenn man damals richtig gehandelt hätte, wären viele Kommunen auch nicht am Limit?
Das ist ganz sicher so. Was das Reden von Limits betrifft, empfehle ich immer, zu differenzieren. Es gab im vergangenen Jahr 330.000 Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde – bei 120 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht waren. Rund 40 Prozent der Kommunen sehen sich aktuell im Notfallmodus und haben Probleme mit der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten, 60 Prozent geben an, dass die Lage noch machbar oder sogar entspannt ist.
Flüchtlingspolitik: Kölner Ethiker kritisiert CDU-Chef Friedrich Merz
40 Prozent im Notfallmodus: das ist doch ziemlich viel…
Natürlich müssten wir deutlich mehr investieren in die Infrastruktur: Es fehlen Unterkünfte, es fehlt Personal in vielen Ausländerbehörden, es fehlen Schulplätze und vieles mehr. Aber für die ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger haben wir auch vieles möglich gemacht. Sie haben unmittelbar Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, erhalten Bürgergeld, Krankenkassenleistung, die Kinder können zur Schule gehen. Das ist eine Blaupause für eine gelingende Integrationspolitik. Warum sollte das perspektivisch nicht für viel mehr Menschen möglich sein, wenn der politische Wille da wäre, in diese Infrastruktur zu investieren?
Es gibt seit vielen Jahren Ankündigungen, das zu tun – offenbar stößt das System aber an Grenzen. So schnell geht es offenbar nicht mit dem Ausbau von Schul- und Kitaplätzen – und es gibt in fast jedem Bereich Fachkräftemangel. Oder denken Sie, dass bewusst nicht mehr in die Integration von Geflüchteten investiert wird?
Zum einen werden die Investitionen sehr genau austariert, weil man Sorge hat, dass zu viele Integrationsleistungen der AfD noch mehr Zulauf böten. Dabei sind es ja auch und gerade die Geflüchteten, die helfen, den Fachkräftemangel zu beheben – und Renten langfristig zu sichern. Der Diskurs wird zu selten positiv geführt – es wird immer öfter eine Politik gemacht und eine Sprache benutzt, die versucht, Menschen am rechten Rand zu bedienen und die ist auch dank der digitalen Medien sehr erfolgreich.
Denken Sie an Sätze wie jene des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der behauptet hat, dass Geflüchtete beim Arzt sitzen und sich die Zähne neu machen lassen, und die deutschen Bürger nebendran keine Termine kriegen?
Zum Beispiel. Das war nicht nur sachlich völlig falsch, sondern auch eine billige und populistische Polemik, sehr gezielt eingesetzt, um Stimmen am rechten Rand zu fischen.
Die Polemik richtete sich explizit nicht gegen die Geflüchteten aus der Ukraine, sondern gegen die sogenannten illegalen Migranten…
Ich finde es erschreckend, wie in der Debatte zwischen guten und den schlechten Flüchtlingen unterschieden wird. Das war auch politisch gerahmt. So hatte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Zeitenwende-Rede die besondere Verbundenheit Europas mit den kämpfenden Ukrainerinnen und Ukrainern betont. Diese würden nicht nur „ihre Heimat“ verteidigen, sie stünden auch im Kampf für „Freiheit und ihre Demokratie“ und damit für „Werte, die wir mit ihnen teilen“. Ähnlich bemühte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, das Familienbild, indem sie meinte, dass diese tapferen Menschen in der Ukraine und der außergewöhnliche Präsident Selenskyj zu unserer europäischen Familie gehören. Sie verteidigen unsere Werte. Sie sind bereit zu sterben für unsere Werte, so von der Leyen.
Was ist daran falsch?
Es wäre in Ordnung, wenn nicht auf der anderen Seite jene vielfach beschworene Zugehörigkeit Abgrenzungen und Abwertung gegenüber anderen schaffen würde, denen diese Familienmitgliedschaft abgestritten wird. So war medial davon die Rede, dass es sich diesmal und anders als 2015 um „echte Flüchtlinge“ handeln würde. Oder, wie ein Gast in einer Talk-Show meinte, dass, anders als bei früheren Flüchtlingskrisen, aus der Ukraine nun Menschen kämen, die fleißig seien, wissbegierig und neugierig. So ist auch die Bundesinnenministerin, Nancy Faser zu verstehen, wenn sie meinte, wir müssen uns gegen den „illegalen Migranten“ zur Wehr setzen, damit wir „weiter den Menschen helfen können, die dringend unsere Unterstützung brauchen“. All das sind Mosaiksteine des Gesamtbildes einer zunehmend auf radikale Abschottung setzenden europäischen Flüchtlingspolitik.
Kölner Silvesternacht: Willkommener Ansatz, um zu sagen, „das klappt nicht mit den Flüchtlingen“?
Welche Rolle hat die Kölner Silvesternacht aus ihrer Sicht für den rhetorischen Drift nach rechts und schärfere Asylgesetze gespielt?
Für nicht wenige war die Silvesternacht von Köln ein willkommener Anlass, um laut sagen zu können: Haben wir immer gesagt, das klappt nicht mit den Flüchtlingen. Die Botschaft „Wir schaffen das“ wurde schnell mit nein beantwortet und das war eine innenpolitische Spitze gegen Angela Merkel. Geflüchtete waren in diesem Diskurs meistens nicht die Subjekte der Erzählungen. Es ging stattdessen um die Befindlichkeit der Deutschen, um ihre Angst, um das, was „wir“ schaffen und nicht darum, ob es Geflüchtete schaffen, hier aufgenommen zu werden.
Aber es steht doch außer Frage, dass Männer, überwiegend mit muslimischem Hintergrund, sexuell übergriffig waren – und ein erschreckendes Beispiel dafür gaben, dass die Integration von jungen Männern mit diesem Hintergrund offenbar nicht gut funktioniert, oder?
Gehen wir zunächst vom zeitlichen Ablauf aus: Nach wenigen Tagen gab es die pauschalisierte Schuldzuweisung: Das war der arabische Mann. Obwohl man die Täter noch gar nicht kannte. Am Schluss stellte sich heraus, dass auch deutsche Staatsbürger beteiligt waren. Die komplexen Zusammenhänge wurden reduziert auf die Figur des arabischen Mannes, der über „unsere Frauen“ herfalle. Diese Stereotypisierung wurde auch von Frauenrechtlerinnen kritisiert, weil die vermeintliche Verteidigung von Frauenrechten rassistisch gerahmt wurde. Das Problem der schwierigen Integration von Männern aus den Maghreb-Staaten hatten wir aber schon vorher. Das hatte aber nichts mit der Fluchtbewegung von 2015/16 zu tun, sondern wurde unsachgemäß politisch instrumentalisiert.
Mit welchen Folgen?
Das Asylrecht wurde verschärft, ebenso wie das Sexualstrafrecht und das Aufenthaltsgesetz. Aufgebaut hat sich Suggestion, dass Frauen in einem chronischen Bedrohungszustand seien. Auf dieser Welle ist auch die AfD gesurft: Geflüchtete bedrohen unsere Kultur, da findet der große Austausch statt, die angestammte Bevölkerung wird kulturell verfremdet.
Die Welt steht auch angesichts des Klimawandels vor gewaltigen Fluchtbewegungen. Eine gerechtere globale Verteilung von Wohlstand bleibt vermutlich Utopie. Halten Sie eine humanere Flüchtlingspolitik für realistisch, ohne der AfD noch mehr Wähler in die Arme zu treiben?
Dann, wenn es gelingt, andere Themen in den Vordergrund der Politik zu stellen: Zum Beispiel die Bekämpfung von sozialer Isolation und Einsamkeit, ein politisch stark unterbelichtetes Thema. Gerade Menschen, die sich isoliert fühlen, treibt es ja in die Hände der Rechtsextremen. Man darf nicht außer Acht lassen, dass ein gewisser Zulauf der AfD auch sozioökonomisch bedingt ist.
Heißt: In Chorweiler wählen mehr Menschen AfD als in Lindenthal?
Und wo leben in Köln mehr Geflüchtete? Es war bei Ihnen zu lesen, dass im Bezirk Lindenthal die wenigsten untergebracht sind und in Porz die meisten. Bei Einkommensschwächeren verzeichnen wir mehr Zustimmung zu rechtsextremem Gedankengut. Und daher ist zu fragen: Müssen wir nicht viel kritischer auch die Ungleichheitsstrukturen in Deutschland in den Blick nehmen? Die Altersarmut in Deutschland wächst weiter an, auch die Kinderarmut wächst und gegenwärtig leisten wir uns eine unsägliche Debatte darüber, ob das Bürgergeld nicht abgesenkt werden sollte. Diese Armutsfallen treiben Menschen in die Hände der AfD. Daher gilt: Eine gute Sozialpolitik baut auch einen Schutzwall gegen rechts.
Aber das ist teuer.
Das sollte es uns wert sein. Wohin eine Gesellschaft sonst driften kann, sehen wir ja gerade in vielen Ländern, in denen die Demokratie bröckelt.
Zur Person: Uwe Becker, Präsident der Evangelischen Hochschule Darmstadt, ist Professor für Sozialethik. Er lebt in Köln und Darmstadt. In den Jahren 2000 bis 2004 leitete er als Pfarrer das Sozialwerk des Evangelischen Stadtkirchenverbands Köln. In seinem Buch „Deutschland und seine Flüchtlinge“, erschienen 2022, stellt Becker die These auf, dass die Kölner Silvesternacht und das Narrativ „Nie wieder so viele Flüchtlinge wie 2015“ eine Politik der Abschottung und eine Polarisierung der Gesellschaft extrem befördert hätten. In der Debatte über Geflüchtete kommen diese kaum zu Wort. Stattdessen geht es vor allen Dingen um die Befindlichkeit Deutschlands.