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Nach Brustkrebs-OPKölnerin wird Opfer eines Angriffs – und will anderen Frauen Mut machen

Lesezeit 6 Minuten
Vera Anselm wurde zusammengeschlagen, weil sie um Ruhe bat.

Vera Anselm wurde zusammengeschlagen, weil sie um Ruhe bat.

Vera Anselm bat Feiernde in der Nachbarschaft um Ruhe – und wurde Opfer eines brutalen Übergriffs. Sie will sich nicht einschließen.

Vera Anselm hätte kein Problem damit, mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung zu stehen. Sie wäre auch bereit gewesen, ihr Gesicht zu zeigen, weil jede Form des sich Versteckens in ihren Augen falsch ist. Unerkennbar bleibt die 63-Jährige lediglich ihrer Tochter zuliebe, die sonst noch mehr Angst hätte, dass der Mutter erneut Gewalt widerfahren könnte.

Vera Anselm wurde am 12. Mai vergangenen Jahres, am Muttertagssonntag, durch Schläge und Tritte schwer verletzt. Die Kölner Staatsanwaltschaft bestätigte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ auf Anfrage ein entsprechendes Strafverfahren. Aus Sicht von Vera Anselm ist dieser Akt Gewalt gegenüber einer wehrlosen Frau allerdings nur eine von drei im Grunde unfassbaren Komponenten im Zusammenhang mit dem körperlichen Angriff.

Niemand soll eingegriffen haben

Noch immer fassungslos ist die Kölnerin auch darüber, dass an jenem Abend von den umstehenden Menschen niemand eingeschritten,  geschweige denn, ihr zu Hilfe gekommen sei. „Dabeistehen und zurückgucken, wie eine Frau zusammengeschlagen wird – wie kann man danach in Ruhe schlafen gehen?“, fragt sie.

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Zu schaffen macht ihr außerdem, dass ihre Akte, wie sie erfuhr, „inzwischen beim Staatsschutz“ liege. Statt dass es zu einem aus Opfersicht nur zu verständlichen schnellen, juristischen Abschluss kommt, werde der Vorfall – so empfindet sie es – nun „von einem Schreibtisch auf den anderen geschoben“.

Vera Anselm wurde zusammengeschlagen - Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung

Das Schriftstück belegt die Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung.

Während sie das sagt, steht Anselm auf, geht in ihrem Wohnzimmer zu einem Schränkchen und entnimmt diesem eine Dokumentenmappe. Der Täter habe sie wegen „verhetzender Beleidigung“ angezeigt, berichtet sie und legt ein entsprechendes Schriftstück zum Beweis auf den Tisch. Ihr werde zur Last gelegt, den Mann, der sie zusammengeschlagen habe, als „Scheiß Kanacken“ bezeichnet zu haben. „Dabei ist das so gar nicht meine Art zu sprechen“, beteuert sie.

Dem Schriftstück auf dem Wohnzimmertisch ist der Tatvorwurf nach § 192a StGB zu entnehmen – sowie der Tatort, eine Wohnsiedlung im Rechtsrheinischen, und die Tatzeit: 22.25 Uhr. Vera Anselm ist damals noch sehr geschwächt von ihrer gerade erst drei Wochen zurückliegenden Brustkrebs-Operation und zieht sich deshalb auch an diesem Muttertags-Abend früh zum Schlafen zurück.

Sie kommt nicht zur Ruhe, weil es draußen „total laut“ ist. Durch die Jalousie ihres Schlafzimmerfensters sieht sie vor dem Haus schräg gegenüber eine Gruppe feiernder Menschen. So erzählt sie es heute. „Es waren etwa zwölf, auch Kinder.“ Die Kölnerin wartet erst ab, zieht sich schließlich etwas über, geht draußen auf die Leute zu und sagt: „Könnten Sie die Festivität vielleicht nach innen verlegen – es ist so laut!“

In dem Moment sei einer aus der Gruppe auf sie zugekommen und habe gebrüllt, sie als Nazi-Schlampe bezeichnet. Er habe ihr vorgeworfen: „Wir sind doch immer gleich die Kanacken!“

Der Mann sei näher gekommen. Anselm habe ihn mit Verweis auf ihre noch frische Brust-Operation gebeten, Abstand zu halten. Spannung habe in der Luft gelegen. Ein Kind in der Gruppe beginnt zu weinen, erinnert sich Anselm. Als die Kölnerin versucht habe, ihrem Gegenüber auszuweichen und in einem Bogen zurück zu ihrem Hauseingang zu gelangen, habe der Mann geschrien: „Du hast mein Kind zum Weinen gebracht!“

„Mein erster Gedanke war: Du darfst dich nicht wehren.“

Die Kölnerin schildert den Vorgang aus ihrer Sicht: Im nächsten Augenblick habe der Mann mit der einen Hand ihr Kinn gepackt, um sie festzuhalten und mit der Faust der anderen Hand erst gegen ihre Lippen und dann gegen die Brust geschlagen. Sie sei schreiend zu Boden gegangen. Dann habe ein zweiter Mann über ihr gestanden und ihr in die Rippen getreten.

„Mein erster Gedanke war: Du darfst dich nicht wehren, sonst kommen die nicht aus ihrer Rage raus.“ Ihr zweiter Gedanke lautet: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Im Nachhinein weiß die 63-Jährige noch immer nicht genau, wie sie wieder auf die Füße gekommen ist: „Irgendwie habe ich mich aufgerappelt“. Dann habe sie sich zurück in den Hauseingang geschleppt und von dort gesehen, dass „da überall Leute in den Fenstern hingen“. Anselms Entrüstung ist noch immer zu spüren. „Es war so unfassbar schockierend, dass mir keiner zu Hilfe gekommen ist. Es war ein Alptraum!“ Als am folgenden Tag ein Nachbar bei ihr auftaucht und einräumt, „ich habe mich nicht getraut“, habe sie nur gedacht: „Was sind das alles für Feiglinge!“

Immerhin habe jemand aufgrund ihrer wiederholten Hilfe-Schreie die Polizei gerufen, die wenig später eintrifft. Die Beamten nehmen von allen Anwesenden die Personalien auf, Anselm wird – noch unter Schock stehend – mit dem Rettungswagen nach Merheim gebracht. Ihre Verletzungen – unter anderem schmerzhafte Rippenprellungen – werden fotografiert. Die Folgen eines brutalen Angriffs auf sie sind belegt, alle weiteren Details lassen sich nicht überprüfen und sind Gegenstand von Ermittlungen.

Wochen später habe sie durch die Polizei erfahren, dass der eine der beiden mutmaßlichen Angreifer, ein etwa 30-jähriger Bulgare, im vergangenen Sommer bereits das Land verlassen habe. Den anderen Mann sehe sie hin und wieder. Der wohne zwar nicht in der Nachbarschaft, sei aber wohl öfter dort zu Besuch.

Als könne Anselm die Gedanken ihres Gegenübers lesen, sagt sie: „Ich bin ein Mensch, der ausgesprochen wenig Angst hat. Ich war immer schon eher Robin Hood“, bemerkt sie lächelnd, um im nächsten Moment die Antwort auf die Frage zu geben, wer oder was ihr bei der Verarbeitung des Erlebten geholfen habe: Jesus. „Ohne ihn hätte ich die Sache nicht überstanden“.

Wer mit Vera Anselm spricht, erlebt eine Herzlichkeit ausstrahlende, reflektierte Person; eine Frau, die ihre Wörter mit Bedacht wählt. Sie ist verletzt – durch die erlebte physische Gewalt, aber auch durch das reaktionslose Zusehen. Verbittert ist sie nicht. Sie ist schockiert darüber, „wie ignorant unsere gutbürgerliche Gesellschaft mit solchen Vorfällen umgeht“, aber sie ist kein Verfechter von Bestrafung. Sie „hätte auch eine Entschuldigung angenommen“, betont sie.

Ihr geht es um den sozialpsychologischen Bereich; darum, „ein Bewusstsein für das eigene Defizit“ zu schaffen, das sich darin ausdrücke, einem Schwächeren Gewalt anzutun. Für viele andere Frauen bedeutet eine solche Gewalterfahrung und das daraus resultierende Trauma vor allem eines: Rückzug. Anselm hingegen verspürt keinerlei Bedürfnis, sich aus Angst künftig in ihrer Wohnung einzuschließen. Im Gegenteil. „Ich möchte anderen Frauen Mut machen.“ Niemand dürfe sich darüber hinwegsetzen, „dass wir als Frauen stark, gewollt und respektiert sind“, sagt die Kölnerin auch mit Blick auf den 8. März, den Internationalen Tag der Frau. „Wir dürfen uns nicht unterdrücken und einschüchtern lassen von irgendwelchen Macho-Gebaren.“