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Kolumne „Jetzt rege ich mich auf“„Wir Eltern haben jedes Maß verloren“

Lesezeit 4 Minuten
Helikoptereltern

Eltern bringen ihre Kinder oft vor die Schultür (Archivfoto).

  1. Eltern haben immer mehr ein Problem damit, ihre Kinder loszulassen, schreibt Redakteur Frank Nägele.
  2. Die Folge sind lange Elterntaxi-Staus vor den Schulen und überteuerte Geburtstags-Events.
  3. „Wir Eltern haben im Umgang mit unseren Kindern offenbar jedes Maß verloren“, kommentiert Nägele in seiner Kolumne „Jetzt rege ich mich auf“.

Man soll mich nicht falsch verstehen. Dies ist auch eine Selbstkritik, denn ich war auf dem besten Weg, ein Teil dieser Generation Eltern zu werden, deren Überfürsorge durch die Helikopter-Metapher treffend ausgedrückt wird: Immer über ihren Kindern schwebend, sie auf allen Wegen verfolgend, keine Minute aus den Augen lassend.

Selbst staatlichen Institutionen mit unmittelbarer Aufsichtspflicht will man seine Kinder nicht uneingeschränkt anvertrauen. Schon der Schulweg wird zum Staatsakt.

Bis weit in die Pubertät hinein wird der Nachwuchs vor den Eingang der pädagogischen Anstalten gekarrt und geschleppt – soweit es die Staus zulassen, die beim Ansturm der Elternarmada vor der ersten Stunde und nach Schulschluss entstehen. Seit die Sommerferien zu Ende gegangen sind, beobachte ich diesen Tumult an den mir bekannten Orten, sofern ich sie um diese Zeit passiere, und die Rangiervorgänge mit den geräumigen Automobilen auf engstem Raum scheinen mir die Gesundheit der Schüler mehr zu gefährden als jeder vorstellbare Schulweg.

Der Wahnsinn hat alle Bereiche erfasst

Wir Eltern haben im Umgang mit unseren Kindern offenbar jedes Maß verloren. Ich schließe mich da durchaus mit ein. Das gerade noch rechtzeitige frühzeitige Loslassen war viel mehr die Leistung meines Sohnes als meine eigene, denn er hat mir schon im Alter von sieben Jahren ganz klar gemacht, dass es peinlich ist, vom Papa auf einem 500 Meter langen Schulweg begleitet zu werden, auf dem nicht mehr Gefahren drohten als beim Duschvorgang im Badezimmer.

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Der Wahnsinn der Überbeachtung und -versorgung hat inzwischen alle Bereiche erfasst. Im Leben eines Kindes mit bürgerlichem Hintergrund scheint es keine Ereignisse mehr geben zu dürfen – nur noch Events.

Alleine die ausufernde Organisation normaler Geburtstage erfordert inzwischen in Budget und Planung ein eigenes Management. Wer es heute wagen würde, das an Kicks gewöhnte junge Publikum mit einem Spiele-Nachmittag, Kakao und Kuchen abzuspeisen, würde Unverständnis und Geringschätzung ernten, und wer wollte das dem eigenen Kind antun?

„Stell dir mal vor, die Nägeles waren beim Geburtstag mit den Kindern nicht einmal im Escape-Room und haben auch keinen Motto-Tag veranstaltet. Da können wir unsere Kinder unmöglich noch einmal hinlassen.“ Zur Vermeidung dieser Schande haben wir, hochgerechnet auf die Jugend meines jetzt 21-jährigen Sohnes, mehrere tausend Euro ausgegeben.

Traditionell war das Problem der Kinder beim Wünschen die Erfüllung, seit geraumer Zeit ist es für den Teil der jungen Menschen, die nicht in schwierigen Verhältnissen leben, das Wünschen selbst. Die neueste Spielekonsole, die schrillsten Sneaker oder der nächste Urlaub sind ja keine Dinge, die man sich wünschen muss.

Das gehört zum All-inclusive-Paket einer westlichen Mittelstandsjugend, der so langsam dämmert, dass sie gegenüber uns Erwachsenen vor allem einen legitimen Wunsch vorbringen sollte: Den einer für sie noch ein Leben lang bewohnbaren Welt. Aber genau hier zeichnet sich ein dramatisches Versagen ab.

Erziehung hilft wenig dabei, den Planeten zu retten

Die Art, wie wir unsere Kinder an das Leben heranführen, wird es ihnen kaum leichter machen, einen Lebensstil anzunehmen, der unseren Planeten retten kann. Wir sind ganz schlechte Vorbilder in Fragen des Verzichts, der Demut und Selbstbeschränkung.

Wir leben in allen Konsequenzen dieses Missverständnis einer persönlichen Freiheit vor, die sich um die Folgen ihres Tuns für die Allgemeinheit nicht schert. Und in unseren Kindern sehen wir offenbar den ultimativen Schritt unserer Selbstverwirklichung. Das hier zur Anklage benutzte „Wir“ schließt selbstverständlich alle aus, die es besser gemacht haben als ich selbst.

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Gelegentlich frage ich mich, wie ich vor mehr als einem halben Jahrhundert meine eigene Jugend überleben konnte. Denn im Vergleich zu den Helikopter-Eltern von heute saßen meine damals in einem U-Boot und waren die meiste Zeit des Tages – und auch der Nacht – für mich unsichtbar, was auch an den Nikotinwolken lag, in denen wir im ehemaligen Raucherparadies Deutschland aufwuchsen.

Wir gingen jeden Morgen alleine zur Schule, waren bis zum Einbruch der Nacht auf Tour, fuhren Fahrrad ohne Helm, wurden in den großen Ferien wochenlang in Zeltlager mit militärischer Organisation geschickt, tranken heimlich Underberg und meine Mama sagte immer: „Wenn was passiert, werde ich es schon erfahren.“

Das war eine tolle Jugend. Aber sie hatte offenbar bis in die übernächste Generation hinein Eltern zur Folge, die sich an diese Gefahren erinnern, ihren eigenen Kindern alles ersparen möchten und dabei vergessen, wieviel Spaß dieses Heranwachsens damals gemacht hat, als ein junges Leben noch nicht die Abfolge von organisierten Events war, sondern einfach so passiert ist.