Köln – Im Fernsehen berichtet eine Reporterin live vom Kölner Chlodwigplatz, in diesen Minuten setzt sich die Friedensdemo in Bewegung. Vadim steht in einem Wohnzimmer im Kölner Süden und starrt ein wenig ungläubig auf den Bildschirm. Er sieht Menschen in bunten Kostümen, Tausende, Zehntausende.
Manche halten Flaggen der Ukraine in den Händen oder sind in Gelb und Blau gekleidet, sie zeigen Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und demonstrieren für den Frieden in Europa. „Ich freue mich, das zu sehen“, sagt Vadim. „Es gibt uns Kraft zu sehen, dass die ganze Welt für uns ist. Russland steht alleine.“
48 Stunden Flucht im Auto
Vor zwei Tagen ist der 30-jährige Ukrainer mit seiner Frau Katja und den gemeinsamen Kindern Alexander (4) und David (6) in Köln angekommen, nach einer 48-stündigen Flucht im eigenen Auto aus Czernowitz, einer 250.000-Einwohner-Stadt im Südwesten des Landes. Ohne Pause seien sie durchgefahren, erzählt Vadim. „Wir wollten nur schnell weg, und wir haben es geschafft.“
Als Russland vorigen Donnerstag am frühen Morgen in die Ukraine einmarschierte, hielt Vadim sich mit einem Freund in Polen auf, die Männer wollten dort ein Auto kaufen. Seine Frau habe ihn um 7 Uhr angerufen, erzählt Vadim, und ihm berichtet, dass vor drei Stunden der Krieg begonnen habe. Eilig habe sie ein paar Sachen zusammengepackt, Spielzeug, Kleidung, Dokumente.
Dann habe sie sich mit den Kindern ins Auto gesetzt und sei zur rumänischen Grenze gefahren. Vadim und sein Freund nahmen den Weg über die Slowakei und Ungarn und warteten in Rumänien auf Katja und die Kinder, gleich hinter dem Grenzübergang. Als er die drei nach ein paar Stunden tatsächlich in die Arme schließen konnte, habe er ein Gefühl der Erleichterung verspürt, das er gar nicht in Worte fassen könne, sagt er.
Familie hatte die Flucht sorgfältig geplant
Vadim und seine Söhne sind an diesem Rosenmontag zu Besuch bei einem Kölner Polizisten, der ihnen geholfen hat, die Flucht zu organisieren. Der 52 Jahre alte Beamte, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, möchte aus dienstlichen Gründen nicht mit Namen genannt werden, er ist hauptsächlich als Zivilermittler tätig. Er kennt seit Jahren Katjas Mutter, die in Hürth in einer Zwölf-Quadratmeter-Wohnung lebt. Vor etwa zehn Tagen hätte er Anzeichen dafür erkannt, dass eine Eskalation in der Ukraine unmittelbar bevorstehen könnte, erzählt er.
Daher beschwor er Katjas Mutter, ihre Familie in der Ukraine früh auf eine Ausreise vorzubereiten. „Ich riet ihnen dazu, besser schon mal Koffer zu packen, Dokumente zusammenzusuchen und vor allem: sich gedanklich auf die Flucht einzustellen.“ Im Internet recherchierte der Polizist die sicherste und kürzeste Route von Czernowitz nach Köln. „Ich wusste: Wenn es so weit ist, muss alles sehr schnell gehen. Die kilometerlangen Autoschlangen, die sich jetzt an den Grenzübergängen zu den Nato-Staaten gebildet haben, waren absehbar.“
Während ihrer zweitägigen Flucht von Rumänien über Ungarn und Österreich nach Köln hielten Vadim und der Kölner Polizist permanent Kontakt über Telefon und Whatsapp. Vorerst ist die vierköpfige Familie nun in der Zwölf-Quadratmeter-Wohnung in Hürth untergekommen, Katjas Mutter ist inzwischen in die Ukraine zurückgekehrt. Dort lebt ihr Mann, er ist pflegebedürftig, Katja und Vadim mussten ihn zurücklassen, weil er nicht transportfähig ist.
Mithilfe des Polizisten will Vadim schnell eine größere Unterkunft für seine Frau und die Kinder finden – und dann in die Ukraine zurückkehren, um dort gegen Putins Soldaten zu kämpfen. Er habe das Gefühl, er müsse das tun, sagt der 30-Jährige – obwohl er lieber bei seiner Familie bleiben wolle. Aber so viele seiner Landsleute, die im Ausland leben, kämen gerade in die Ukraine zurück, um Widerstand zu leisten, sagt Vadim, der in Czernowiz als IT-Experte gearbeitet hat. „Ich werde auch kämpfen.“ Eine Waffe habe er zuletzt in der Grundschule einmal in der Hand gehalten. Angst habe er nicht, jetzt, da seine Frau und die Kinder in Sicherheit seien.
Von dem Mut, von der Entschlossenheit und der Führungsstärke des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sei auch er überrascht worden, erzählt Vadim. „Die ganze Welt ist überrascht von ihm. In der Ukraine vertraut man ihm jetzt.“ Die Solidarität, die ihm und seinen Landsleuten nun weltweit entgegenschlägt, freue ihn sehr, wenngleich er sie sich schon deutlich früher gewünscht hätte. Spätestens 2014, als Russland die Krim annektiert habe. „Da war klar, dass es Krieg geben wird. Die Frage war immer nur: wann“, sagt Vadim.
Während er erzählt, spielen David und Alexander mit den Figuren eines Star-Wars-Schachspiels. Sie wirken lebhaft, unbeschwert, neugierig. Sie wissen nicht, was in ihrer Heimat gerade geschieht. „Sie sind noch zu klein“, sagt Vadim. Er und Katja haben ihnen nur gesagt, dass man nach Deutschland fahre, gewissermaßen wie in den Urlaub. Wie lange sie hierbleiben können und wollen, wüssten sie noch nicht, sagt Vadim. Er ist überzeugt: „Alles wird gut.“ Für David steht im September die Einschulung an – vielleicht in Czernowitz.