Köln – Geht Karneval als Demonstration gegen einen brutalen Angriffskrieg? Wird der Drahtseilakt gelingen? Schon die Frage, ob ein Kostüm angemessen ist oder ob nüchterner Purismus der Lage eher ansteht, hat so manchen am Morgen umgetrieben. Die Mädelstruppe um Anahita Parastar setzt entschieden auf karnevalistische Accessoires mit Perücken in blau und gelb.
Närrisch, aber im Zeichen der Solidarität. „Natürlich stellt man sich die Frage, wie das zusammengehen soll. Aber es tut auf jeden Fall gut, der eigenen Ohnmacht auf diese Art heute ein Ventil zu geben“, sagt sie. Jetzt zusammenzukommen, das sei doch jetzt das einzige, was man tun könne.
Niemand mit Kölsch in der Hand
Die Bahn von Ehrenfeld in Richtung Südstadt ist rappelvoll. Schon beim Einsteigen macht sich so etwas wie Erleichterung breit: Keine grölenden Narren, niemand mit Kölsch in der Hand. Es ist eher so etwas spürbar wie eine ruhige, dankbare Stimmung: Endlich aktiv werden, statt auf die Nachrichten zu starren.
Beim schier endlosen Pilgerzug der Menschenmenge in Richtung Kundgebung am Chlodwigplatz weichen die letzten Zweifel: Ja, Karneval und Krieg. Lebensfreude und politische Ernsthaftigkeit – das geht zusammen. Menschen, zumal die Jecken in Köln, sind intuitiv sensibel für die Gratwanderung, die heute ansteht. Der Rosenmontagszug, den das Schicksal den Kölnern nun überraschend doch noch aufgetragen hat, nachdem sie ihn schon abgeschrieben hatten, er funktioniert auch ohne Kamelle und Strüßjer. Ohne Alkohol. Und ohne Alaaf.
Kloß im Hals
Als die Roten Funken, ebenfalls im Pulk unterwegs zum Chlodwigplatz mit ihrer Kapelle den „Stammbaum“ von den Bläck Fööss anspielen, fühlt sich alles einen kurzen Moment an wie immer. Geht das heute, Karnevalsmusik?, fragt man sich selbst ganz irritiert. Um gleichzeitig zu spüren, wie sie gerade heute mitten reingeht, die Hymne von „Zäng ussenander“ gegen Rassismus und für Völkerverständigung. Wie sie förmlich einen Kloß im Hals verursacht. Und wie sich auch hier das Narrenvolk unabgesprochen pietätvoll versagt, mitzusingen und nur die Musik wirken lässt.
Ihren 89-jährigen Vater habe sie gestern am Telefon gesprochen, erzählt Brigitta Roder. Der habe den Krieg erlebt und ihr aufgetragen: „Ihr müsst dahin gehen und für den Frieden demonstrieren – bunt und fröhlich.“ Und gerade so eine Karnevalsdemo sei doch auch nach außen ein wichtiges politisches Zeichen, „dass Demokratie Freiheit und Lebensfreude verbindet.“
Dabei macht die Brechung durch das Karnevalsprisma an diesem Tag die Ungeheuerlichkeit dessen, was da gerade in der Welt passiert, noch mal deutlicher: Da sitzt der kleine Lappenclown im Kinderwagen mit einem Schild „Wir wollen keinen Krieg“ in der Hand. Eine Gruppe Grundschulkinder skandiert mit einem Plakat in der Hand „Wir sind hier, wir sind laut, weil Putin uns die Zukunft klaut.“ Ein junges bunt kostümiertes Paar hält eine Fotomontage hoch, die Putin im Hitlerantlitz zeigt: „Hitler 1938. Putin 2022“ steht da drauf. Als ein paar Musikanten auf mitgebrachten Instrumenten „We shall overcome“ anstimmen, stehen Menschen Tränen in den Augen.
Wie für heute geschrieben
Es ist eine sehr besondere Stimmung – so ernsthaft wie lebenszugewandt. Aus den Boxen beim „Scheffken“ an der Severinstraße ertönt von Brings das Anti-Kriegslied „Liebe gewinnt“. Und irgendwie hat man das Gefühl, auch dieses Lied, ist wie für heute geschrieben. Der Kitsch von gestern scheint plötzlich passender Ausdruck der Sehnsucht von heute: „Und wir beten dafür, dass’n Wunder passiert. Und wir endlich kapier’n, dass wir alle gleich sind. Und nur die Liebe gewinnt.“ Die Menge vor und in der Kneipe deutet ein zaghaftes, fast verschämtes Schunkeln an. Fast hat man den Eindruck, dass andächtig zugehört wird: „Wir werden frei sein, wenn wir uns lieben. Es wird vorbei sein, mit allen Kriegen. Wir sind Brüder, wir sind Schwestern, egal wo wir sind. Glaub mir, die Liebe gewinnt. Die Hoffnung macht uns stark. All das Morden und das Sterben. Doch es kommt der Tag. An dem die Kriege aufhör’n.“
Der Zug stockt nur ein paar Meter nach dem Start. Der einzige Persiflagewagen mit einer von der russischen Flagge aufgespießten, bluttriefenden Friedenstaube, der eigentlich den Zug anführen sollte, wird überholt von den von allen Seiten sich aus den Seitenstraßen einreihenden Demonstranten. Sie stellen sich kurzerhand an die Spitze des Zuges. Die Vorhut mit den Prominenten um Ministerpräsident Hendrik Wüst und Oberbürgermeisterin Henriette Reker wird zur Nachhut. Närrische Anarchie statt der üblichen geordneten Rosenmontagszug-Reihenfolge.
Auch das passt irgendwie zu diesem besonderen Tag. Die Ukrainerin Lada Lynbina steht am Rand und schaut auf die bunte, endlose Menschenmenge, die an ihr vorbeizieht. Der Ukrainerin, die in Köln lebt, ist völlig egal, wer heute kostümiert ist. „Dass hier alle mit Herz und Seele dabei sind, das ist die Hauptsache. Und das ist so wichtig für uns“, sagt sie. Die Ukrainerin erzählt, sie könne nur noch mit Schlafmitteln nachts ein oder zwei Stunden Ruhe finden.
Ihre Familie lebt in Kiew. Pausenlos sei sie über ihr Handy eingebunden in den Krieg, jeder Raketeneinschlag erreiche sie als Nachricht in Echtzeit. „Wenn ich doch vor totaler Übermüdung einschlafe, schrecke ich beim Aufwachen auf und habe Angst in Kiew anzurufen. Ich weiß ja nicht, ob mein Vater den Hörer noch abhebt.“
In den Kneipen herrscht Leere
In den Kneipen in den Veedeln, die sonst am Rosenmontag um die Zeit mit guter Stimmung gefüllt sind, herrscht am frühen Abend noch weitgehend Leere. „Man kann ja den Hebel nicht einfach so umlegen. Das lässt uns alles nicht kalt“, sagen Silvia und Thomas, die auch auf der Friedensdemo waren. Ein paar Kölsch trinken, eine Frikadelle essen und ein bisschen zusammensitzen. „Dann gehen wir wieder nach Hause. Nach ausgelassenem Tanz ist uns nach diesem Tag nicht. Aber jetzt alleine zuhause sitzen ist ja auch nicht die Lösung“.
Egal ob im „Effi“, im „Haus Tutt“ oder in der Försterstube. In den Veedeln füllten sich die Kneipen wenn überhaupt nur zögerlich. „Und selbst bei denen, die kommen, gibt es nur ein Thema – Krieg. Das liegt wie ein Schleier auch über dem Feiern hier“, erzählt Elke Huth, Chefin der Försterstube am Ehrenfeldgürtel. „Wenn wir das vorher geahnt hätten, dass nach Corona nun auch noch das passiert, dann hätten wir gar nicht erst aufgemacht.“