Auf 146 Seiten schrieben CDU und SPD ihre Ziele für die nächste Regierung fest. Hendrik Wüst begrüßt die Strategie zur Inneren Sicherheit, die Grünen sind über die Klimaschutz-Pläne entsetzt, Arbeitgeber freuen sich auf den Industriestrompreis.
„Das Land wird sicherer“Schwarz-roter Koalitionsvertrag steht – was für NRW wichtig wird

Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, sieht in dem Koalitionsvertrag einen Garant für mehr Sicherheit.
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Tag eins nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags von CDU und SPD. Was bringen die Vereinbarungen für Nordrhein-Westfalen? Die Landespolitik hatte hohe Erwartungen in die Verhandlungen gesetzt. Welche Auswirkungen haben die Pläne für die Innere Sicherheit, die Probleme bei der Migration, für Industrie und Wirtschaft und die Altschulden der Kommunen? Dazu meldeten sich NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und die Verbändevertreter zu Wort. Wir haben ihr Fazit in den wichtigsten Fragen zusammengefasst.
Wird NRW jetzt sicherer?
Ja, da ist sich Hendrik Wüst sicher. NRW-Innenminister Herbert Reul hatte zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufklärung von Kindesmissbrauch schon seit langem die Einführung der Vorratsdatenspeicherung gefordert. In der Ampel-Regierung hatte die FDP die Pläne ausgebremst, nun ist der Weg frei dafür.
„Die Speicherpflicht für IP-Adressen ist eine Antwort auf die Herausforderungen im Inneren“, sagte Wüst am Donnerstag vor Journalisten. „Die Sicherheitsbehörden brauchen diese Instrumente dringend im Kampf gegen Terrorismus, Organisierte Kriminalität und die massenhafte Verbreitung von Filmen, Bildern von schwerem Kindesmissbrauch. Gut, dass das jetzt möglich ist.“ Union und SPD vereinbarten eine Speicherpflicht für drei Monate.
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Was bedeutet die Vereinbarung für die Flüchtlingsfrage?
Bekommen fünf Jahre lang nur unter fünf Prozent der Geflüchteten aus einem bestimmten Staat einen Schutzstatus, gilt dieser Staat künftig automatisch als sicheres Herkunftsländer. „Das erspart uns Debatten und Politisierungen, wo eigentlich Fakten eine klare Sprache sprechen“, sagte Wüst. Der Bund will künftig auch die Abschiebung nach dem Dublin-Verfahren an die EU-Außengrenzen in die Hand nehmen.
„Allein der Bund kann im zwischenstaatlichen Dialog mit unseren europäischen Nachbarländern auf europäischer Ebene für Veränderungen sorgen. Auch dafür sorgen, dass Dublin besser gelebt wird. Das kann ein deutsches Bundesland nicht“, so Wüst. Deswegen sei es richtig, dass der Bund zukünftig die Zuständigkeit für Dublin-Überstellungen übernehme. Deutschland werde sicherer: „Nach außen wie nach innen.“ Pro Asyl lehnt die vereinbarte Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzbedürftige ab.
Was ändert sich an Schulen und Kitas?
Die Länder tragen weiter die Verantwortung für Schulen und Kitas. Allerdings bekennt sich der Bund künftig stärker zu seiner finanziellen Verantwortung. „Der Bund hat den Kommunen mit der Umsetzung des Kitarechtsanspruches ein gewaltiges Paket auf die Schultern gelegt“, sagte Wüst. Es sei ein Fehler gewesen, dass die Ampel sich Ende 2021 aus der Finanzierung des von ihr zu verantwortenden Platzausbaus zurückgezogen habe: „Gut, dass die neue Koalition diesen Fehler jetzt korrigiert und in die Förderung des Platzausbaus wieder einsteigt.“
Sinken jetzt die Verbraucherpreise?
Die Hoffnung besteht zumindest bei den Energiekosten. Die Stromsteuer wird für alle auf das europäische Mindestmaß gesenkt, Umlagen und Netzentgelte werden reduziert. „Das sind gute Nachrichten, sowohl für Verbraucher als auch die Industrie. Für Haushalte in Nordrhein-Westfalen bedeutet die Senkung der Stromsteuer eine spürbare Entlastung“, glaubt Wüst. Ebenfalls sehr wichtig sei die angekündigte Reduzierung der Netzentgelte. Diese machten mittlerweile rund 30 Prozent der gesamten Stromkosten aus.
Wer soll den riesigen Schuldenberg jemals zurückzahlen?
Investitionen dürften nicht allein auf dem Rücken der jungen Menschen ausgetragen werden, mahnte Wüst. „Es muss jedenfalls alle Anstrengung unternommen werden, dass die heutige Generation mindestens einen Teil dieser Kredite auch selber wieder zurückzahlen kann.“
Die in NRW mitregierenden Grünen sind da skeptisch. „Generationengerechtigkeit darf keine reine Wahlkampffloskel sein“, sagte Simon Roch, Finanzexperte der Grünen im Landtag. Die Liste der Wahlgeschenke von Union und SPD sei lang. Mütterrente, die Mehrwertsteuersenkung in der Gastronomie, die Reduzierung der Luftverkehrssteuer, die höhere Pendlerpauschale und die Agrardiesel-Rückvergütung würden die Steuerzahler mindestens zweistellige Milliardenbeträge kosten.
Wüsts Stellvertreterin als Ministerpräsident, NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur, spricht von „nicht nachvollziehbaren Leerstellen“ im Koalitionsvertrag: „Es bleibt völlig unklar, wie die neue Bundesregierung die Senkung der Energiepreise finanzieren, einen Industriestrompreis einführen und die Kosten dauerhaft in den Griff bekommen will“, sagte die Grünen-Politikerin. „Schweren Entscheidungen aus dem Weg zu gehen, ist keine verantwortliche Politik. Wer allen alles verspricht, wird am Ende wenig halten.“
Was wird aus den Altschulden der Kommunen?
Die Städte stecken in einer dramatischen Finanzkrise mit einem kommunalen Rekorddefizit von bundesweit fast 25 Milliarden Euro – allein für das vergangene Jahr. CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt, die Kommunalfinanzen bundesweit systematisch zu verbessern. Konkrete Maßnahmen, wie die strukturelle Unterfinanzierung der Kommunen beseitigt werden soll, enthält der Koalitionsvertrag aber nicht.
„Die geplanten Bundesmittel bleiben hinter den Erwartungen der NRW-Städte zurück und reichen zusammen mit den Landesmitteln für eine nachhaltige Altschuldenlösung noch nicht aus. Da muss noch nachgelegt werden“, sagte Thomas Kufen (CDU), Oberbürgermeister der Stadt Essen und stellvertretender Vorsitzende des Städtetags NRW.
Wirtschaftsministerin Neubaur begrüßt die Zusage des Bundes, seinen Teil zur Lösung des Altschuldenproblems beizutragen, kündigt aber an: „Wir werden darauf achten, dass dem auch Taten folgen.“
Was wird aus dem Klimaschutz?
Bei den Grünen zeigte man sich entsetzt darüber, dass der Bereich Klimaschutz jetzt wieder dem Umweltressort zugerechnet wird – bei der Ampel hatte das Thema zum Wirtschaftsressort gehört. Die künftigen Koalitionäre „reißen mit dem Hintern ein, was wir Grünen in den vergangenen Jahren aufgebaut haben“, sagte Grünen-Chef Tim Achtermeyer: „Während aktuell eine Dürre Rhein und Ruhr austrocknet, Ernteverluste, Waldbrände und wirtschaftliche Einbußen drohen, feiern Friedrich Merz und Lars Klingbeil in Berlin eine fossile Party und pusten fröhlich CO2 in die Luft.“
Ist Schwarz-Rot in der Wirtschaftspolitik der große Wurf gelungen?
Aus Sicht der Unternehmen in Nordrhein-Westfallen lässt sich nicht von einem großen Wurf reden. Arndt Kirchhoff, Präsident der Arbeitgeber in NRW, sieht Licht und Schatten – und das Mindestziel erreicht: „Es ist eine sehr gute Nachricht, dass Deutschland jetzt schnell eine handlungsfähige Bundesregierung bekommt. Ich hoffe sehr, dass dies auch der Startschuss für einen neuen Aufbruch in unserem Land ist.“ Ja, der Koalitionsvertrag setze wichtige Impulse zur Erneuerung und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, „bleibt aber zugleich in wichtigen Politikfeldern hinter den Erfordernissen zurück“.
Was bemängelt der Chef der NRW-Arbeitgeber?
In der Steuerpolitik sei das Ergebnis „zu wenig ambitioniert“, sagte Kirchhoff. Die Möglichkeit zu Abschreibungen auf Investitionen von 30 Prozent sei zwar positiv, eine „dringend notwendige“ umfassende Unternehmenssteuerreform bleibe allerdings aus. Die Senkung der Körperschaftssteuer erfolge in zu kleinen Schritten und deutlich zu spät, erklärte der Arbeitgeberpräsident. CDU und SPD haben beschlossen, die Körperschaftssteuer – das Äquivalent zur Einkommenssteuer bei Personen – ab 2028 in fünf Schritten um jeweils einen Prozentpunkt von heute 15 auf dann zehn Prozent zu senken. Kirchhoffs weiterer Kritikpunkt: „Die Chance, mit der Abschaffung des Solidaritätszuschlags ein unmittelbares, starkes Signal an die Unternehmen zu senden, wurde leider nicht genutzt.“ Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln zahlen schätzungsweise 600.000 Kapitalgesellschaften den Soli, der ursprünglich für den Aufbau Ost vorgesehen war. Das IW geht davon aus, dass der Staat von 2025 bis 2029 über den Solidaritätszuschlag von Unternehmen schätzungsweise 40 Milliarden Euro einnehmen wird.
Kirchhoff reibt sich an weiteren Punkten. Das angekündigte Tariftreuegesetz bezeichnete er als „nichts anderes als bürokratische Symbolpolitik“. Auch am Plan der Koalition, das Rentenniveau bis 2031 bei 48 Prozent abzusichern, lässt der Arbeitgeberpräsident kein gutes Haar. Statt die Lohnzusatzkosten wieder unter die 40-Prozent-Marke zu senken, „erfolgen weitere Leistungsausweitungen und Garantien, die angesichts des demografischen Wandels nicht zu halten sein werden“, so Kirchhoff. „Eine neue Bundesregierung wird sich in den nächsten Jahren den Realitäten stellen und echte Strukturreformen einleiten müssen.“
Welche Impulse zur Stärkung des Standorts setzt der Koalitionsvertrag aus Arbeitgebersicht?
Kirchhoff findet sie zum Beispiel im Arbeitsrecht: „Richtig ist, dass für die dringend erforderliche Flexibilisierung der Arbeitszeit nun die Möglichkeit einer wöchentlichen statt einer täglichen Höchstarbeitszeit geschaffen werden soll.“ Die gleiche Einsicht habe er sich aber auch bei den „viel zu starren“ Ruhezeitregelungen gewünscht.
Außerdem sieht Kirchhoff in der Energiepolitik die richtigen Weichen gestellt. Jahrelang hatte sich der Arbeitgeberpräsident für einen Industriestrompreis eingesetzt und eine Deckelung des Kilowattstunden-Preises für energieintensive Unternehmen auf vier bis sechs Cent gefordert – aktuell ist es drei- bis viermal teurer. Jetzt bekommt Kirchhoff seinen Wunsch erfüllt, der Industriestrompreis steht im Koalitionsvertrag, die Höhe ist noch unbekannt. Der NRW-Arbeitgeberpräsident freut sich außerdem, dass die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß gesenkt, Netzentgelte gedeckelt und die Gasspeicherumlage abgeschafft werden.
„Ein wirklich großer Schritt ist die Abschaffung des nationalen Lieferkettengesetzes“, sagte Kirchhoff. Gleiches gelte für den geplanten Bürokratieabbau. „Die künftigen Regierungsparteien werden wir allerdings daran messen, dass der Bürokratieabbau nun auch endlich in der gesamten Breite der Wirtschaft spürbar wird. Gerade hier wurde in der Vergangenheit immer wieder viel zu viel angekündigt und am Ende viel zu wenig gemacht.“
Die Umgestaltung des Bürgergelds zu einer Grundsicherung sei richtig, hier setze der Koalitionsvertrag ein Signal „für ein neues Bewusstsein für den Wert der Arbeit“, sagte Kirchhoff mit Blick auf verschärfte Mitwirkungspflichten von und Sanktionen für Empfänger. „Das kann und muss dazu beitragen, wieder für mehr Fairness und Leistungsgerechtigkeit zu sorgen und die Akzeptanz unserer Sozialsysteme zu stärken.“