Eltern haben oft keine Ahnung, was ihren Kindern auf TikTok so entgegenkommt. Ein Selbstversuch bringt verstörende Einblicke.
Kulturkampf, Fake News, VölkischesSelbstversuch einer entsetzten Kölner Mutter auf TikTok

Auf TikTok ist die AfD-Kanzlerkandidatin Spitzenreiter bei den Followern.
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Das Erste, was mir auf TikTok entgegenkommt, sind „drei Dinge, die ein Mann braucht“. Eine TikTokerin namens Vera Mindset ruft mir zu: „Männer kämpfen da draußen jeden Tag Schlachten. Zuhause sollte der Ort sein, wo der Mann Energie tanken kann. Bring ihm Ruhe, Liebe und Verständnis entgegen. Sei sein Frieden, nicht sein Krieg.“ Das ist ja mal ein Auftakt. „Wenn du an seine Führung glaubst, wird er sich so fühlen, als könnte er es mit der ganzen Welt aufnehmen“, schließt das Video.
Vor fünf Minuten habe ich mich auf der Plattform angemeldet. Ich wollte in diesem digitalen Kosmos der Jugend, der da angeblich Neuwähler reihenweise zu AfD-Wählern macht, einfach vor der Bundestagswahl mal eine eigene Erfahrung machen. „Es wäre wirklich gut, wenn Lehrerinnen und Lehrer sich die App auch selbst mal anschauen würden, wenn es in ihrer Klasse 98 Prozent TikTok-Abdeckung gibt“, hatte mir der Politologe und TikTok-Experte Marcus Bösch gesagt, als ich mit ihm über den Zusammenhang von TikTok-Nutzung und AfD-Präferenz gesprochen habe. Schließlich nutzen über 80 Prozent der 14- bis 19-Jährigen die Social-Media-Plattform. Bei den 14- bis 17-Jährigen ist TikTok laut dem Ergebnis der Sinus-Studie die Nachrichtenquelle Nummer eins.
Das kann ja auch für Eltern nicht schaden, sich da mal umzutun, dachte mir und habe dann wohl in meinem unbedarften Anfängergeist viel zu lange entsetzt auf dieses erste Video geschaut. Der Algorithmus, für den ich ein völlig unbeschriebenes Blatt bin, registriert, wie lange ich auf das Video schaue und wittert Morgenluft. Mein TikTok-Account wird in der nächsten Stunde geflutet von AfD-Content. Ein Mann stellt sich mir vor, der „stolz darauf ist, deutscher Staatsbürger mit kongolesischen Wurzeln“ zu sein. Aber wie solle er noch stolz sein, wo doch hier im Land jetzt jeden Tag einer ermordet werde. Da sei er dankbar für die AfD als einzige Partei, die realistische Politik mache. „Wir deutsche Staatsbürger lassen uns nicht länger abschlachten für eine verfehlte Politik.“
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Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel ist die Politikerin mit den meisten Followern auf TikTok.
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Eine „Marie Kämpferherz“ fordert mich auf, gemeinsam „mit in den Kulturkampf zu gehen gegen die Flut der Zugewanderten, die Deutschland dem Verfall preisgeben“. TikTok ist ein mächtiges Vehikel, wenn es um politische Kommunikation mit der jungen Zielgruppe geht. Das Markenzeichen ist die Kommunikation auf Augenhöhe und die direkte Ansprache.
Laut Studien dauert es durchschnittlich 15 Minuten, bis nach einer Anmeldung auf TikTok das erste Mal Fake News auftauchen. Bei mir ist es schon nach zehn Minuten so weit als mir jemand ganz genau vorrechnet, dass ein Bürgergeldbezieher das gleiche Netto zur Verfügung habe wie ein Mensch mit Vollzeitjob abzüglich Steuern, Miete und Energiekosten: nämlich 502 Euro. Direkt danach verkündet mir eine TikTokerin namens Julie Capulet „die Sensation des Jahres“. Der Ukraine-Krieg sei beendet, der Friedensvertrag unterzeichnet. Putin habe den Krieg gewonnen. „Was sagt Ihr jetzt, ihr Trump-Kritiker? Er hat jetzt schon in zwei Fällen für Frieden gesorgt“, ruft sie ins Mikrofon.
Alice Weidel ist sehr präsent auf TikTok
Außerdem erfahre ich noch von „tattookrause“, dass die Demonstranten gegen Rechts in Deutschland fast alle mit Steuergeld gekauft waren. Um einen angeblichen Aufstand der Anständigen zu konstruieren, seien die organisierenden Verbände von den Ampelparteien mit Millionen Euro unterstützt worden. „Bei Verbreitung auf Social Media gab es dann noch 30 Euro pro Person oben drauf. Das sind alles wahre Informationen. Alles bestätigt.“
Die einzige Politikerin, die mir zunächst immer wieder in meinen Account gespült wird, ist wenig überraschend die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel. Sie ist mit über 800.000 Followern die Politikerin auf TikTok mit der mit Abstand größten Reichweite. „Ich wünsche mir, dass Teenager in Deutschland wieder unbeschwert die Nacht unsicher machen können. Die Menschen in diesem Land möchten endlich wieder Normalität“, ruft sie mir aus dem Rücksitz einer Limousine zu.
Aber es kommt noch schlimmer: Der österreichische FPÖ-Chef Herbert Kickel schickt an die „liebe Alice“ eine Solidaritätsadresse via TikTok. „Wir fiebern in diesem Wahlkampf mit euch. Die Ampel-Einheitspartei will die Bürger zu Untertanen machen. Aber Wahrheit und Liebe zur Heimat siegen am Ende immer über den Eigennutz der Einheitspartei“.
Ein Herzchen für den TikTok-Star der Linken
Die AfD-Schleife scheint endlos. „Du darfst da nicht so lange draufschauen. Sonst bekommst du gar nichts anderes mehr angezeigt“, ermahnt mich meine 16-jährige Tochter, die ich entsetzt zur Hilfe geholt habe. Einfach zügig weiter scrollen und sobald irgendwas anderes kommt sofort mit einem Herz liken, coacht sie mich. Der Algorithmus registriert, ob man vorzeitig zum nächsten Video weiterwischt. Ich wische also so lange hektisch weiter bis Heidi Reichinnek von den Linken auf meinem Display auftaucht – wie eine Lichtgestalt aus einem Paralleluniversum. Kein Zufall, denn die 36-jährige Spitzenkandidatin der Linken, ist ein TikTokStar und bietet mit 533.000 Followern als einzige der AfD-Frau Weidel auf TikTok ernsthaft Paroli.
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Heidi Reichinnek, TikTok-Start der Linken, bei ihrer Rede im Bundestag, die auf TikTok 30 Millionen Klicks generierte.
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Hektisch drücke ich das Herz, als das Video ihrer Bundestagsrede bei der Abstimmung über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ mit ihrem Ausruf „Auf die Barrikaden“ endet. 30 Millionen Klicks hat sie damit auf TikTok bereits generiert. Das dann folgende Video von der Berliner Demo gegen Rechts klicke ich wie in einer Art innerer Notwehr gleich drei Mal nacheinander an. Um erleichtert festzustellen, dass das sofort wirkt. Jetzt sehe ich nicht nur Reichinnek rappen im Duo mit „Silberlocke“ Gregor Gysi. Es wird auch diverser.
Nach über einer Stunde taucht der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz das erste Mal auf, der den „lieben Followern“ erklärt, wie er sich auf die ganzen Fernsehduelle vorbereitet hat. Gefolgt von der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. „Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Alle Menschen sind gleich“, sagt die 103-Jährige mit zaghafter Stimme ins Mikrofon. Und dann: „Seid Menschen!“ Das höre ich mir gleich doppelt an, um meinen Algorithmus zu imprägnieren, bevor ich das TikTok-Universum verlasse.
Dass erste Studien inzwischen einen Zusammenhang zwischen TikTok-Nutzung und AfD-Präferenz belegen, scheint mir nicht weiter verwunderlich. Auch die aktuelle „Trendstudie Jugend in Deutschland 2025 Spezial zur Bundestagswahl, belegt das: Demnach steht mit Blick auf die 18- bis 21-Jährigen, die erstmals bei einer Bundestagswahl wählen dürfen, die AfD mit 20 Prozent an erster Stelle, dicht gefolgt von der Linken mit 19 Prozent. „Das sind die beiden Parteien, die einen besonders starken Fokus auf einen digitalen Wahlkampf in den sozialen Medien gelegt haben“, erläutert Kilian Hampel, Mitautor der Studie.
Ich selbst mache nach zwei Stunden TikTok zweierlei: Ich lösche die App und unterschreibe die aktuelle Petition von Campact. Dort haben sich gerade 100 Akteure aus Kultur, Wirtschaft und Medien zu der Initiative „Save Social Media“ zusammengeschlossen. Ziel ist es, mit konkreten politischen Schritten soziale Netzwerke als demokratische Plattform zu retten. Das wäre, glaube ich, bitter nötig.