Seit mehr als einem Jahr herrscht in der Ukraine Krieg. Kölner Mütter erzählen vom Sterben ihrer Kinder an der Front – und über die Geburt ihrer Babys.
Kölnerinnen über Tod ihrer Kinder„Früher habe ich ihnen verboten, Spielzeugpistolen zu haben“
Vadim war zweiundzwanzigeinhalb Jahre alt, sein Körper trainiert, sein Geist wendig, er hatte gerade seinen Bachelor in Flugzeugbau abgeschlossen, war Präsident des Studentennetzwerks ISEC in Charkiw, verliebt, verlobt, strotzend vor Zuversicht. „Er konnte nicht nicht lachen“, sagt seine Mutter und zeigt Fotos von Vadim und seinem Zwillingsbruder Vladimir: Hier ein Was-kostet-die-Welt-Lachen mit schneeweißen, geraden Zähnen, da ein in sich gekehrtes Lächeln, die Lippen ein fein gebogener Strich. Die Brüder liegen sich in den Armen.
Inna Berezhna sitzt im Frühstücksraum eines grauen Hotels an der grauen Bergisch Gladbacher Straße, es piept nervtötend, die Feuerwehr testet eine Rauchmeldeanlage. „Nichts zu machen“, sagt die Frau an der Rezeption, „das piept noch eine Weile so.“ Die Mutter trägt ein T-Shirt mit dem Namen der Spezialeinheit, für die Vadim an der Front vor Lugansk kämpfte, eine Sturmbrigade für gefährlichste Einsätze. Sie holt einen Granatsplitter aus ihrer Handtasche, den sie vergangene Woche bei einem Besuch in Charkiw von der Straße aufgehoben hat. „Bitte, fühlen Sie, wie scharf und spitz und schwer, diese Splitter liegen zu Tausenden in der Stadt herum, diese Splitter bringen den Tod.“
Eine Ein-Raum-Wohnung am Rathenauplatz. Sonne fällt durchs Fenster, draußen besingen die Meisen den Frühling. Alice lächelt und gluckst aus ihrem Marienkäferstrampler, sie nimmt Plastikspielzeug in den Mund und zieht sich an ihrer Mutter hoch, ein bisschen wackelig noch, bald wird sie ihre ersten Schritte machen. „Ich konnte mit zehn Monaten schon laufen“, sagt Olga Didenko, „Alice ist spät dran!“ Mutter und Tochter sitzen auf dem Teppich in dem winzigen Apartment, das die Stadt für Geflüchtete angemietet hat. Das Lachen der Mutter passt nicht immer zu dem, was sie erzählt: Sie sagt, dass sie oft umziehen mussten, nachdem sie am 20. März in Köln angekommen waren, dass sie in einem Hotel von Angestellten fremdenfeindlich beleidigt worden sei; wie schwierig es sei, in einem Land zu leben, ohne dessen Sprache zu beherrschen. Dass sie kaum Kontakt zum Vater des Kindes habe.
„Ich weiß noch nicht, was ich machen werde, wenn Alice größer ist, aber ich bin jung, gerade 30, ich kann ein neues Leben anfangen“, sagt Olga Didenko. Und, nach einer Pause: „Die Geburt meiner Tochter ist das größte Glück, das mir passieren konnte.“ Didenko hat Alice am 16. April in Porz zur Welt gebracht, die Ärzte meinten, es war eines der ersten Kölner Babys einer aus dem Krieg geflüchteten Ukrainerin. „Ich bin so froh, dass Alice die Bomben nicht gehört hat“, sagt die Mutter.
In Europa ist Krieg, der Tod ist gegenwärtig wie das Leben, die Berichte von der Front in Donezk und Bachmut gemahnen an den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Schützengräben, Artillerie, Nahkampf, Lazarette, Massengräber. „Im Westen nichts Neues“ ist der Film der Stunde, der Roman hatte Tausende zu Pazifisten werden lassen, jetzt klingen die Rufe der Immer-noch-Pazifisten so ratlos wie die der ehemaligen Pazifisten, die nach mehr Waffen rufen. Ohnmächtig, weil es beim Menschen nichts Neues gibt, er nicht lernen kann aus der Geschichte, die sich also wiederholt.
Täglich gibt es Meldungen über neue Tote, neue Fronten, neue Waffenlieferungen
Täglich gibt es Meldungen über neue Fronten, neue Tote, das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat bis zum 19. März 8317 tote ukrainische Zivilisten registriert und schreibt, dass weitaus mehr Menschen gestorben seien. Die ukrainischen Behörden berichten von 167.000 toten russischen Soldaten, die Russen von 180.000 toten Ukrainern, die Zahlen sind Propaganda, Kriegsarithmetik, abstrakt und weird wie die Waffendebatten, Leopard, Marder, Kampfjets, Haubitzen, Atombomben. So spricht das Leben über den Tod.
Inna Berezhna erzählt, dass sie ihren ersten Deutschkurs bestanden habe, in zwei Stunden beginnt der zweite. Sie lebt mit zwei Afrikanerinnen in drei Zimmern des Hotels. Ihre gemeinsame Sprache ist Deutsch, über ihre Traumata reden können sie nicht. „Ich versuche, stark zu sein, weil Vladimir noch lebt, vor allem für Vladimir bin ich stark.“ Nein, eine Therapeutin brauche sie nicht. Sie weint.
Sie habe nicht gewusst, dass Vadim sich freiwillig fürs Militär gemeldet hatte, sagt die Mutter, dass er einen schwierigen Test bestand, der ihn qualifizierte für Fronteinsätze der Sturmbrigade einer Spezialeinheit. „Vadim und Vladimir haben mir nichts gesagt.“ Sie ahne, dass die Brüder – so verschieden wie unzertrennlich – sich gestritten hätten: „Vladimir konnte nicht verstehen, warum Vadim unbedingt zum Militär wollte, um unser Land zu verteidigen. Vadim konnte nicht verstehen, warum Vladimir ihn abhalten wollte.“
Sie wisse, dass der Kriegsbeginn für Vadim – wie für alle jungen Ukrainer - das Ende seiner Jugend bedeutet habe, das Ende seines unbeschwerten Lebens, in dem es einfach für ihn war, Erfolg zu haben und zu reisen, sich mit Freunden zu treffen, geliebt zu werden und zu lieben. „Plötzlich war da für ihn nur noch die Notwendigkeit, unser Land zu verteidigen, unsere Freiheit. Im Krieg. Ich verstehe das.“
Sie holt ein großes, gerahmtes Bild aus der Tasche, Vadim in Uniform, Maschinengewehr um die Schulter, sein Kinn mit dem rötlichem Bart hochgereckt, dazu das Zahnpastalachen, die Zuversicht in den Augen. Sie öffnet die Fotogalerie auf dem Handy, zeigt Vadims Abzeichen in Kreuzform und Urkunden, eine ist vom ukrainischen Präsidenten Selensky persönlich unterschrieben, gelobt wird Vadims Tapferkeit. Die Rhetorik ist auf russischer und ukrainischer Seite gleich: Gestorben seien sie als Freiheitshelden.
Am 16. April 2022 spürt Olha Didenko um 4 Uhr morgens ein Ziehen im Bauch. Sie versucht, weiterzuschlafen, ruft am frühen Morgen nicht ihre Mutter an, die mit ihrer jüngeren Schwester auf dem Weg nach Düsseldorf ist, um einen Ausweis zu verlängern. Als die Wehen stärker werden, ruft sie Kölner Bekannte an, bei denen sie nach der Flucht zunächst gewohnt hatte. Die Familie fährt sie ins Porzer Krankenhaus, wo festgestellt wird, dass sich die Nabelschnur um den Hals des Babys gewickelt hat, er bekommt zu wenig Sauerstoff – die Mutter muss sofort notoperiert werden, der Embryo ist in Lebensgefahr. Als Alice einige Stunden später gesund an der Brust ihrer Mutter liegt, „habe ich geweint und konnte nicht aufhören“, sagt Olga Didenko. Nicht vor Glück. „Ich hatte Angst, allein zu sein. Ich habe mich verloren gefühlt.“
Am Abend kommt ihre Mutter ins Krankenhaus, umarmt die Tochter, umarmt Alice, macht Fotos, das Baby, ein Wunder, Mutter und Tochter weinen. „Alice“, wiederholt Didenko, „ist das Beste, was mir passieren konnte“. Das Beste nicht zuletzt, weil sie ihr Leben komplett hinter sich lassen musste, die Arbeit als Junior-Chefin eines Möbelgeschäfts in Dnipro, ihre Freundinnen, ihren Freund, der seit Jahresbeginn Ex-Freund ist, den Großteil ihrer Familie, ihrer Hoffnungen.
Stadt Köln hat gut 11.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Unter ihnen ist auch Alice
Mehr als 11.000 Menschen aus der Ukraine hat die Stadt Köln aufgenommen, dazu ein paar Tausend, die noch nicht registriert sind, über eine Million Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine sind es in Deutschland. Es sind Menschen, deren Leben vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie den Granaten entkamen. Sie leben jetzt in Unterkünften mit kriegstraumatisierten Afghanen und Syrern und Irakern, manche auch bei den Alten unter den Deutschen, die ihre Kriegstraumata seit ihrer Kindheit mit sich tragen.
Inna Berezhna möchte reden. Über ihre Söhne, die so unterschiedlich waren. Der schillernde Vadim, der alle zum Lachen brachte, Verantwortung übernahm, in jedem Raum der Mittelpunkt war, und der introvertierte Vladimir, warmherzig und ausgleichend, zwei Minuten älter und um Jahre rationaler als sein Bruder, den er über alles liebte. „Als sie Kinder waren, habe ich ihnen verboten, Spielzeugpistolen zu haben“, sagt die Mutter. „Sie wollten sie natürlich auch mal haben, aber ich wollte das nicht, ich habe ihnen beigebracht, nie auf Menschen zu zielen, auch nicht mit Spielzeug.“ Sie habe sie zu Pazifisten erziehen wollen.
„Du kannst so viel schreien, wie Du willst. Es geht nicht anders“
Als Vadim ihr erzählt habe, dass er sich freiwillig gemeldet habe und an die Front gehe, habe sie geschrien. „Vadim hat gesagt: Es tut mir leid, Du kannst so viel schreien, wie Du willst. Es geht nicht anders, ich muss es tun.“ Fast immer, wenn sie angerufen habe, während er an der Front war, habe er gesagt, er könne nicht sagen, wo er sei und was er mache, es sei geheim. Er nannte nur seinen ungefähren Standort, er ging mit der Frontlinie Richtung Lugansk. Seit März 2022 lebte die Mutter mit der Ungewissheit wie ihr Sohn – getroffen zu werden oder nicht.
Wenn sie nicht hochschwanger gewesen wäre, sagt Olga Didenko, wäre sie in Dnipro geblieben, „ich hatte keine Angst um mich, nur um das Kind, ich bin eine starke Frau“, sagt sie. „Ich wollte nicht, dass mein Kind im Krieg aufwächst, keine Seele übersteht es unbeschadet, Einschläge zu hören und Sirenen und die Angst zu spüren, die in der Ukraine allgegenwärtig ist.“ Also sei sie nach Köln aufgebrochen, mit dem Allernötigsten, zum Glück auch mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester. „Dass ich keine Ahnung habe, was aus meinem Leben mal wird, ist nicht wichtig: Ich kann als Kellnerin arbeiten oder Aushilfe, ich habe keine großen Ansprüche“, sagt sie, „Hauptsache, Alice geht es gut. Hauptsache, sie wächst nicht im Krieg auf.“
Vadim starb am 11. Oktober an der Front bei Lugansk. Vladimir habe sie angerufen und die Nachricht eines Kommandanten übermittelt, sagt Inna Berezhna. Vadim sei am Arm getroffen worden, er habe verletzt im Feld gelegen, drei Kameraden hätten versucht, ihn zu retten – alle vier seien von den Russen erschossen worden. So habe es der Kommandant berichtet. Vergangene Woche war sie in Charkiw an Vadims Grab. „Seit meinem letzten Besuch am 12. Oktober hat sich Zahl der Gräber dort verdoppelt“, sagt sie. Das ist der Krieg. Immer mehr Tote, die für die Welt namenlos bleiben, für die Menschen eine Tragödie und für die Gesellschaft ein Trauma.
Inna Berezhna geht in Köln zweimal pro Woche in ein ukrainisches Café mit geflüchteten Frauen, Hilfsorganisationen organisieren Besuche von Konzerten und Museen. Sie will schnell Deutsch lernen und übt täglich. Sie sei dankbar für die Hilfe der Deutschen. Sie gehe auch regelmäßig in die Kirche und bete. Vielleicht tut sie das auch an Ostern, zum Fest, an dem die Christen den Sieg des Lebens über den Tod feiern. „Aber an Gott und das ewige Leben“, sagt sie, „glaube ich nicht.“