Als Felix Wittmann vor zwei Jahren die Diagnose Krebs erhält, ist er gerade Deutscher U23-Meister im 800-Meter-Lauf geworden.
Diagnose mit 20Wie der Kölner Spitzen-Sportler Felix dem Krebs trotzt – und vom nächsten Titel träumt
Felix Wittmann wird stutzig, als er den Brief der Doping-Behörde in seinen Händen hält. Seit seinem Sieg sind zwei Wochen vergangen. Die Doping-Kontrolle ist reine Routine, bei negativem Ergebnis meldet sich niemand. Wittmann ist gerade Deutscher U23-Meister im Mittelstreckenlauf geworden. 800 Meter in 1:47, 66 Minuten ist er gelaufen, persönliche Bestzeit, „der schönste Tag in meinem Leben“, sagt der 22-Jährige Sportstudent rund zwei Jahre später in der Spoho-Bibliothek in Müngersdorf. Er kommt gerade von seinem täglichen, dreistündigen Training im Stadtwald.
In dem Schreiben von jenem Sommer 2022 steht, Wittmann sei „positiv auf das Wachstumshormon HCG getestet“ worden, eigentlich bekannt als Schwangerschaftshormon. „Es stand dort bereits drin, dass es im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung stehen könnte“, sagt Wittmann.
Seit Wochen hat Felix Wittmann Schmerzen im Leistenbereich, die er ignoriert. Nach der Meisterschaft lasse ich das untersuchen, denkt er. Doch die Euphorie nach dem Sieg soll noch nicht getrübt werden. Auch als er es schwarz auf weiß hat, dass er einen Tumor haben könnte, will er nicht sofort zum Arzt gehen. Eine Freundin, die zu Besuch ist, überredet ihn dann doch, sich noch am selben Tag untersuchen zu lassen. Wittmann telefoniert mit seiner Mutter, die einen Termin in der Notaufnahme in Longerich macht. Einen Ultraschall später und der Arzt bestätigt ihm, was er inzwischen längst befürchtet: Er hat Hodenkrebs.
Diagnose Krebs kommt auf dem Höhepunkt der bisherigen Karriere
Felix Wittmann befindet sich gerade auf einem Höhepunkt, das Leben liegt mit allen Möglichkeiten vor ihm. Wenn er von dem Moment erzählt, der seine Karriere sprengen, seine Existenz gefährden könnte, wirkt er allerdings sehr rational. „Hodenkrebs ist sehr gut heilbar, in 90 bis 98 Prozent der Fälle geht er weg. Die Prognose war also super“, sagt er.
In dieser Situation einen klaren Kopf zu bewahren, das schafft Felix Wittmann, indem er sich in den Status Quo der Forschung einarbeitet. Er liest Artikel, Aufsätze, führt Gespräche mit Ärzten. „Das wissenschaftliche Einlesen habe ich von meiner Mutter“, sagt er. Sie sei stark gewesen, habe ihn regelmäßig mit Informationen versorgt. Viel später wird sie zugeben, abends auch mal geweint zu haben, erzählt Wittmann. Davon bekommt der Spitzen-Sportler aber nichts mit. Der Gedanke an den Tod sei ihm nicht gekommen, vielleicht hat er ihn auch von sich geschoben. Vor allem will er nicht ständig grübeln, erst recht nicht verzweifeln oder gar resignieren.
Der nächste Schritt ist die Operation, ein Hoden muss entfernt werden. Der Eingriff läuft gut, nur eine Woche später fliegt Wittmann in die Karibik für eine mehrwöchige Rundreise. „Ich hatte noch ein bisschen Wundschmerzen, aber nichts, was einen von so einer Reise abhält.“ Später verschlechtern sich die Blutwerte. Er muss sich einer Chemotherapie unterziehen. Eine genaue Vorstellung hat Wittmann nicht. Er kennt nur die Horrorgeschichten, die man so erzählt. Wird schon nicht so schlimm sein, denkt er.
Felix Wittmann: Chemotherapie ist schlimmer als befürchtet
Als krank begreift sich der Spoho-Student mit den dunklen, wuscheligen Locken nicht. Bis ihm die Haare ausfallen und er im Spiegel einen mageren, jungen Mann sieht. Er ist 1,92 Meter groß und wiegt nur noch rund 60 Kilo. „Da war ich dann in dem Bild des Krebskranken drin. Das hat in meinem Kopf etwas verändert.“ Die Chemotherapie ist schlimmer als befürchtet. Er fühlt sich, als habe er eine starke Grippe, die nicht aufhört. Ein dauerhaftes Gefühl von Schwäche. Dazu kommt die ständige Übelkeit. „Wenn du dich in der Nacht nicht fünfmal übergeben hast, war man glücklich.“ Es ist seine Form, Distanz zur Krankheit zu wahren: Wenn Felix Wittmann über seine Gefühlslage in jener Zeit spricht, sagt er oft „man“ statt „ich“.
Was ihn am 800-Meter-Lauf fasziniert? Es sei die „perfekte Mischung aus Sprint und Ausdauer. Man gewinnt nicht, wenn man der Sprintschnellste ist, man gewinnt auch nicht, wenn man nur Ausdauer hat. Es ist taktisch, weil man im direkten Duell nebeneinander läuft.“ Taktik, Kontrolle über das Geschehen, den Körper an seine Grenzen bringen: Dieses Gefühl mag der ehrgeizige Student.
Krebs: Felix Wittmann läuft trotz Chemo-Therapie weiter
Nach der OP stehen dem Athleten drei Mal drei Zyklen à drei Wochen Chemo bevor. Die erste Woche verbringt er jeweils im Krankenhaus, wo er dauerhaft Infusionen erhält. Danach gibt es jeweils Einzelabgaben, ambulant. Zu Beginn trainiert er, so gut es eben geht, merkt erst nicht, dass er seinem Körper zu viel zumutet. Beim zweiten Zyklus tritt er schon deutlich kürzer, legt sich aber nicht zur Ruhe. „Es hat mir vor allem mental weitergeholfen, ich habe versucht, mir einen Rhythmus zu geben. Im Nachhinein war es nicht ideal, für meinen Kopf war es aber ein guter Weg.“
Wittmann beschäftigt sich mit dem Einfluss des Sports auf die Chemotherapie, erfährt, dass körperliche Aktivität die Nebenwirkungen lindern kann. Sein Fall und nicht zuletzt seine Neugierde führen schließlich zur Gründung des neuen Leistungszentrums „Klik“, das an der Uniklinik angedockt ist. Diese neue Kooperation zwischen dem Centrum für Integrierte Onkologie (CIO) der Uniklinik Köln und der Sporthochschule will Leistungssportlern einen Weg aufzeigen, wie sie mit dem Krebs umgehen können, inwiefern der Sport weiter betrieben werden kann und wie sie ins Wettkampfgeschehen zurückkehren können.
Beim dritten Zyklus der Chemotherapie fährt Wittmann sein Training fast auf Null herunter. Die Chemo ist zu anstrengend. An der Uniklinik macht der 22-Jährige unter Anleitung mal eine Stunde Sport im Trainingsraum oder geht spazieren, mehr nicht. Allein ist er nicht. Täglich kommen Freunde und Familie ihn besuchen, das hilft. Kaum ist er mit der Therapie durch, läuft Wittmann wieder. Über Silvester fliegt er sogar zwei Wochen nach Portugal ins Trainingslager, gönnt sich auch diesmal keine Pause.
Er will sich nicht weiter ausgebremst fühlen, den nächsten Sieg einfahren. Die Sorge, nicht mehr an sein früheres Level heranzureichen, ist immer da. Wie realistisch ist die Rückkehr zu seiner Bestform? Ein Chefarzt, der selbst läuft, habe ihm gesagt, das geht.
Trotzdem ist ein Trainingslager zu viel. „Ich hätte da nicht jeden Tag zwei Mal trainieren sollen. Weh tat mir nichts, aber es war anstrengend. Ich hätte mir mehr Zeit geben sollen“, sagt er heute, weiß aber auch: Er würde es wieder so machen, es lässt ihn nicht los, er braucht das Laufen. Auch direkt nach der Chemo. Irgendwie hat sie ihn auch gestärkt, er wird schmerzunempfindlicher. Felix Wittmann läuft und läuft und verletzt sich schließlich: ein Knochenmarksödem.
„Ich habe früher selten an den Worst Case gedacht, nun bin ich für das Thema Krebs sehr empfänglich.“ Doch es gibt offene Fragen. Zum Beispiel, weshalb die Anzahl der Hodenkrebs-Fälle in Europa in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Ob es möglicherweise häufiger sportlich aktive Männer trifft. Wittmann fallen allein vier Fälle aus der Fußball-Bundesliga ein: Sebastian Haller, Marco Richter, Timo Baumgartl und Jean-Paul Boetius. Jungen Männern rät er, das Schamgefühl zu überwinden und zum Urologen zu gehen. „Positiv überrascht war ich, dass viele meiner Freunde nach meiner Diagnose einen Termin gemacht haben. Das ist wirklich kein Aufwand.“
Spoho-Student und Athlet verfolgt seine Ziele, doch erneute OP steht bevor
Jetzt, rund zwei Jahre nach der Diagnose, sei er auf einem guten Weg, seine Form von vor dem Krebs zu erreichen. Die Saison ist gerade erst gestartet, es ist Aufbauphase. Doch es droht der nächste Rückschlag. Keine zwei Wochen nach dem Treffen an der Spoho erfährt Wittmann, dass es einen auffälligen Lymphknoten im Unterbauch gibt. Krebszellen haben sich angesammelt. Fast zwei Jahre lang waren die Blutwerte unauffällig.
Mitte Dezember wird der Masterstudent wieder operiert. Der Arzt habe ihm gesagt, danach sei es wirklich vorbei, sagt Wittmann am Telefon und klingt zuversichtlich. Eigentlich möchte er sich auf seinen Alltag konzentrieren, seine 60-Stunden-Woche zwischen Sportmanagement-Studium, Job am Institut und Lauftraining meistern, den Plan seines Trainers aus der Heimatstadt Eschweiler bei Aachen befolgen. Dabei fiebert er der deutschen Meisterschaft im nächsten Sommer entgegen. Und die Olympischen Spiele in Los Angeles im Jahr 2028 – die sind „der Stern am Himmel“.