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Serie

Der Moment
„Dachte mein Herz bleibt stehen“ – Warum Paul plötzlich mit dem Alkohol aufhörte

Lesezeit 7 Minuten
Paul Ritter, fotografiert auf der Sülzburgstraße in Köln

Zehn Jahre lange hat Paul mit Freunden exzessiv gefeiert Nun führt er ein bewussteres Leben.

Seit er 14 Jahre alt ist, hat sich Paul Ritter jedes Wochenende exzessiv betrunken. Wie es ihm nach anderthalb Jahren komplett ohne Alkohol geht.

Karnevalsdienstag war Schluss. Vier Tage hatte Paul Ritter durchgefeiert, „wie es nur geht und keine Situation ausgelassen, zu trinken“. Nun ging es nicht mehr. „Ich bin mal wieder aufgewacht und alles war scheiße“, sagt der 27-Jährige. Karnevalsdienstag 2023 war der Moment, in dem er beschloss, keinen Alkohol mehr zu trinken. „Ich hatte keine Lust mehr, mich so zu fühlen, weil ich selber schuld bin.“

Der Kater, so harmlos die Bezeichnung daherkomme, war mittlerweile der „Horror“. „Ich habe gedacht, hoffentlich bleibt mein Herz nicht stehen.“ Ritter fühlte sich motorisch eingeschränkt. Zu klaren Gedanken nicht imstande. Was passiert war in der Nacht und wie er nach Hause kam, wusste er oft einfach nicht mehr: Der Filmriss zog sich über Stunden.

Durch den Alkohol: „Ich war ein Mensch, der ich so gar nicht sein wollte“

An jenem 21. Februar überlegte Paul Ritter: Was habe ich für Vorteile, wenn ich so weitermache? Seine Pro- und Kontra-Liste hatte ein klares Ergebnis. Auf der Pro-Seite konnte er keinen Eintrag feststellen. Der Kater war nur einer der vielen Kontra-Punkte.

„Ich war ein Mensch, der ich so gar nicht sein wollte.“ Im Rausch habe er eine ihm nahestehende Person verletzt. Dieser ruhige junge Mann, der in einem Sülzer Café seine Worte mit Bedacht wählt, konnte betrunken auch aggressiv sein. „Wenn man in einer größeren Jungsgruppe auf eine andere trifft, findet man schnell einen Grund, sich zu schlagen.“ Alkohol senkte seine Hemmschwelle, andere Drogen zu konsumieren. Einige Male probierte er Koks aus, nüchtern wäre er nicht auf die Idee gekommen.

Der angehende Veranstaltungskaufmann trinkt nun seit anderthalb Jahren nicht mehr und fühlt sich gut. Er schläft durch, seine Haut hat sich verbessert. Er ist ruhiger und ausgeglichener. Der Sport dient nicht mehr dazu, durchfeierte Nächte zu kompensieren, sondern er stellt fest, er kann seine Leistung steigern. „Die Vorteile, die ich mir erhofft habe, sind eingetreten und fühlen sich noch besser an.“ Kurzweilige Super-Freundschaften, die einzig auf dem gemeinsamen Rausch basieren, gehören der Vergangenheit an. „Man muss nicht immer das Krasseste und Beste erleben, es kann einfach ein netter Abend sein, aber das ist völlig ok.“

Bis zum Karnevalsdienstag 2023 hat Ritter über zehn Jahre lang jedes Wochenende getrunken, und zwar richtig viel: an Freitagen und Samstagen, die Sonntage gingen zum Ausnüchtern drauf. War er ein Alkoholiker? „Per Definition war ich Alkoholiker: Ich konnte und wollte mir lange nicht vorstellen, wie es ohne ist. Dann hat man zumindest ein Alkoholproblem.“ Das Bild des Alkoholikers werde gesellschaftlich falsch transportiert, findet er: Ein Alkoholproblem habe nicht nur der obdachlose Mensch, der morgens erstmal Bier trinkt oder Wodka und sozial marginalisiert lebt.

Das Alkoholproblem, das sei mitten unter uns. „Das ist verpönt, wenn man ungepflegt durch die Straße läuft, aber wenn du mit deinen Businessfreunden nach Ibiza fliegst, in eine Villa und dann jeden Morgen erstmal trinkst nach dem Aufstehen, ist das der Lifestyle.“ Dabei empfinde er im Rückblick seine Jugend als „ganz normal.“ „Ich bin ein normaler junger Mann in meiner Wahrnehmung, der auch eine schöne Jugend hatte, der aber verantwortungslos mit sich selber umgegangen ist.“

Mit 14 Jahren ging es los, mit Alkopops, quietschbunten und überzuckerten Getränken, Alkoholgehalt: fünf, sechs Prozent. Bald griffen er und seine Kumpels zu Schnaps und mischten ihn mit Softgetränken. „Das war dann cool, dass man sich da dran traut.“ Eigentlich war es egal gewesen, was sie tranken. Hauptsache, es wirkte. Man traf sich draußen, „hing ab“, lief zum Supermarkt: Es sei nie ein Problem gewesen, Alkohol zu besorgen. „Beim Kiffen war die Hemmschwelle viel größer, weil es illegal war. Wenn man mit 15 draußen paar Bier getrunken hat, hat keiner etwas gesagt. Da ist man auch nicht aufgefallen.“

Trinken am Rodenkirchener Ufer

Der 27-Jährige ist im Kölner Süden aufgewachsen. Dort war jahrelang die Hochwasserschutzmauer in Rodenkirchen am Rhein der „place to be“ für Jugendliche aus Sürth, Weiß, Rodenkirchen oder Meschenich. „Das war praktisch, man konnte seine Getränke dort abstellen, es gab den Rewe.“ Ritter erinnert sich jedoch auch, dass die hunderten von Jugendlichen Anwohnern sowie dem Ordnungsamt ein Dorn im Auge waren. Es gab immer wieder Stress, Polizeieinsätze.

Das Rodenkirchener Ufer war gewissermaßen der Startpunkt, später fuhren Ritter und seine Kumpels in die Innenstadt. „Auf dem Weg dorthin haben wir schon in der Bahn getrunken.“ Verstecken wollte man sich nicht, im Gegenteil. „Wir hatten nicht den Eindruck, etwas Verbotenes oder Abwegiges zu machen. Diesen Gedanken hatte wirklich niemand bei uns.“

Wenn du mit deinen Businessfreunden nach Ibiza fliegst, in eine Villa und dann jeden Morgen erstmal trinkst nach dem Aufstehen, ist das der Lifestyle
Paul Ritter

Und die Eltern? Von ihnen hat Ritter den Alkoholkonsum in der Form nicht vorgelebt bekommen. „Meine Mutter trinkt seit 15 Jahren nichts mehr. Mein Vater auch relativ selten.“ Dennoch haben sie es ihrem Sohn nie verboten. Für Ritter der einzig richtige Weg: Seine Eltern hätten nichts falsch gemacht, findet er. „Sie haben mich spüren lassen, dass es nicht cool ist, wenn ich einen Absturz hatte. Sie wussten, ein Verbot an dieser Stelle macht alles nur noch schlimmer.“

Auf Alkohol verzichten: Paul möchte Mut machen, einfach Nein zu sagen

Heute ist ihm peinlich, was er ihnen zugemutet hat. Eine Musterlösung, wie damit umzugehen ist, hat er nicht parat. „Wie will man seinem Kind etwas verbieten, was man entweder selber regelmäßig macht oder was so omnipräsent ist – in der Werbung, im Film – dass man sich komplett isolieren müsste, um nicht mit dem Alkoholkonsum konfrontiert zu werden?“

Der Alkohol ist einfach überall. Umso schwerer für diejenigen, die im Brauhaus bei der Bierrunde einmal passen. Wer eine Cola bestellt, werde schief angeguckt, weiß der 27-Jährige. Er musste sich nach seinem Entschluss zunächst auch Sprüche anhören. „Ich wurde gefragt, ob es mir gut geht. Dabei sollte man das eher jemanden fragen, der viel trinkt.“ Die bohrenden Fragen habe er gut weggesteckt. „Da muss ich mich auch nicht mehr beweisen.“ Andere seien einfach ehrlich interessiert gewesen.

Ihnen möchte der 27-Jährige Mut zusprechen, öfter Nein zu sagen und sich zu trauen, trotz der Angst, verurteilt zu werden. Deswegen hat er seine Geschichte auf Instagram veröffentlicht, wo er über seine anderthalbjährige Abstinenz spricht. Ausführlich beschreibt er dort, wie sich sein Leben verändert hat, wie die Gesellschaft mit Alkohol umgeht und wie sie reagiert, wenn man – scheinbar ohne Grund – aufhört.

Die Resonanz hat ihn überwältigt. „Ich habe um die 200 Nachrichten bekommen. Die meisten erzählten mir, dass sie selber immer weniger Lust haben zu trinken, aber es nur selten schaffen, Nein zu sagen.“ Andere haben sich geöffnet und „heftige“ Geschichten von sich oder Angehörigen erzählt. Ritter wolle sich moralisch jedoch nicht erheben. „Aber meine Beobachtungen wollte ich mit anderen teilen.“

Das Bedürfnis nach Rausch könne er gut nachvollziehen. Er selbst suche das Gefühl auch noch. „Es gibt viele Möglichkeiten, wie das Gehirn Dopamin ausschütten kann, ohne dass man sich dafür betäubt. Früher habe ich 50 bis 60 Euro fürs Trinken ausgegeben, jetzt gönne ich mir mal eine Thai-Massage oder so.“

Spende zugunsten der Kölner Suchthilfe

Manche haben sich schon ein Beispiel an ihm genommen und versuchen es nun auch. Oder sie sagen: „Ich habe schon drei Monate nichts getrunken, dann denke ich jedes Mal an dich.“ Das sei ein „krasses Feedback“ für ihn. „Ich habe noch nie so viel Anerkennung oder Wertschätzung bekommen für etwas wie dafür.“

Neben seiner Ausbildung im Veranstaltungsbereich ist Ritter auch Fotograf und macht schon seit ein paar Jahren Kalender mit Analog-Aufnahmen von Köln. Vom Erlös geht stets ein Teil an eine Organisation. In diesem Jahr möchte Ritter die „Kölner Suchthilfe e.V.“ unterstützen. Ob er je wieder Alkohol zu sich nimmt, kann er aktuell nicht sagen. Nur das: „Ich sehe gerade keine Veranlassung, die Situation zu ändern.“

Die Kalender sind ab dem 1. November online erhältlich. (Der Link wird an diesem Datum freigeschaltet).