Neuer Rektor der Spoho Köln„Vereinsamung wird ein massives gesellschaftliches Problem“

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Ansgar Thiel vor dem Eingang am Hauptgebäude, mit dem Schriftzug Deutsche Sporthochschule Köln.

Ansgar Thiel ist neuer Rektor der Sporthochsachule Köln.

Ein Gespräch über die Bedeutung des Sports für die Gesellschaft, Köln und sein provisorisches Leben im Campus-Wohnheim.

Herr Thiel, sitzt man als Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln eigentlich den ganzen Tag im Bürostuhl?

Thiel: Ja, meistens. Aber ich versuche immer wieder aufzustehen, denn ich bin ziemlich hibbelig, insofern sitze ich nicht nur. Als ich Dekan in Tübingen war, hatte ich ein Tretfahrrad unter dem Schreibtisch. Bei den Zoom-Sitzungen musste ich immer schauen, dass mein Kopf nicht wackelt, während ich es benutzte.

Seit dem 20. Mai leiten Sie die Geschicke der „Spoho“. Sie wohnen provisorisch in einem der Wohnheime auf dem Campus. Wie fühlt sich das an, so inmitten der Studierenden zu leben?

Ich habe ein Zimmer am Ende eines Wohnheims und bekomme von den Studierenden nicht viel mit. Ich stehe wie in Tübingen um sechs Uhr auf, mache 40 Minuten auf dem Radtrainer Sport, danach ein paar Kräftigungsübungen und gehe dann zur Arbeit. Zwischendurch übe ich manchmal Trompete in einem Übungsraum im Wohnheim direkt daneben, dann arbeite ich weiter, bis in die Abendstunden. Abends bin ich dann in der Regel platt. Freitags mache ich derzeit meistens Home-Office, ich fahre dafür zurück nach Tübingen. Meine Familie wohnt dort. Mein Sohn macht nächstes Jahr Abitur und dann werden wir erst hierher ziehen.

Bis dahin leben Sie auf wieviel Quadratmetern?

Auf ungefähr 20 Quadratmetern inklusive Küchenzeile und Dusche. Mehr brauche ich gerade auch nicht.

Sie kommen aus dem beschaulichen Tübingen, wo die Stadtidentität mit dem Universitären eng verschränkt ist. Köln ist eine Großstadt mit vielen Hochschulen. Was sind Ihre ersten Eindrücke?

Ich habe eine Zeit lang in Bielefeld gewohnt, und da war ich öfters in Köln und hatte Freunde hier. So kannte ich die Stadt aus einer anderen Perspektive, vom Ausgehen. Aber im Moment bekomme ich nicht viel mehr als die Sport-Uni hier mit. Doch ich habe auch schon Kontakt mit der Uni Köln und der Hochschule für Musik und Tanz aufgenommen. Wir werden uns treffen, unterhalten und Verbindungen herstellen. Köln ist natürlich anders als Tübingen, wo die Universität sehr dominant in der Stadt ist. In Köln ist die Sport-Uni nur ein kleiner Teil einer großen Stadt.

Ansgar Thiel sitzt in seinem Büro Tisch und ist im Gespräch mit dieser Zeitung.

Ansgar Thiel im Gespräch über sein neues Amt, die Spoho und Köln.

Wie empfinden Sie das?

In Tübingen gibt es, gerade weil die Stadt eher klein ist, unglaublich viele Verbindungen über die Fächer hinweg. Man lernt die Leute privat kennen und macht dann auch häufig was in der Forschung zusammen. Aber Köln ist vielseitiger, was ich sehr angenehm finde. Unsere Sport-Uni ist ebenfalls sehr kontaktfördernd, da sie sehr klein ist und der Campus an einem Ort. Gleichzeitig ist Köln gerade aufgrund der Größe für mich eine der attraktivsten Städte Deutschlands, allein vom kulturellen Angebot her. Ich höre beispielsweise sehr viel Jazz, und hier gibt es unglaublich viele klasse Konzerte, ich muss nur noch die Zeit dafür finden. Dass die Möglichkeiten da sind, ist toll.

Sie waren in Tübingen Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Universität, erstmals sind Sie nun Rektor einer Hochschule. Wie finden Sie sich in Ihre neuen Aufgaben ein? Wie gehen Sie dabei vor?

Ich besuche alle Institute, alle Verwaltungseinheiten. Es ist besser, wenn ich zu den Leuten gehe, anstatt umgekehrt, weil mir die Menschen dann vor Ort direkt zeigen, was sie machen. Das ist super spannend. Ich würde gerne Leute aus der Politik einladen und ihnen zeigen, was es hier alles an Forschung gibt. Viele wissen nicht, dass die Professorinnen und Professoren unserer Sport-Uni keine Sportpraktiker und auch keine Trainer sind, sondern sie sind Wissenschaftler. Wenn man zum Beispiel in die Labore der Molekularen Medizin der Sport-Uni geht – das ist im Grunde das gleiche wie in der Molekularen Medizin woanders von der Ausstattung her, nur dass ihr Gegenstand immer etwas mit Sport, Gesundheit und Bewegung zu tun hat.

Was ist Ihre Vision für die Deutsche Sporthochschule?

Die Vision ist, den gesellschaftlichen Auftrag in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu rücken. Wir machen im Moment in unserer Gesellschaft viele Krisenerfahrungen: Klimawandel, demografischer Wandel, Digitalisierung, große Migrationsströme und die damit verbundene Notwendigkeit der Integration. Sport und körperliche Aktivität können in all diesen Bereichen einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen leisten. Das wollen wir über Forschung und Lehre stärker zeigen. Sport ermöglicht ein langes gesundes Leben, fördert soziale Kommunikation und Kooperation, integriert und verhindert nicht zuletzt, dass Menschen vereinsamen. Und Vereinsamung wird in den nächsten Jahrzehnten eines der massiven gesellschaftlichen Probleme.

Welchen Herausforderungen begegnet man in einer sportwissenschaftlichen Universität?

Die sportwissenschaftlichen Einrichtungen haben in Deutschland im Vergleich zu anderen Fächern extrem wenige Professuren. Es kommen auf eine Professur zwischen 175 bis 195 Studierende. Wenn man den Bundesdurchschnitt aller Fächer nimmt, hat man ein Verhältnis von einer Professur zu 68 bis 88 Studierende. Deswegen ist die Sporthochschule extrem benachteiligt auf dieser Ebene. Entsprechend sind auch die Perspektiven für die vielen Nachwuchskräfte schlechter hier und manche guten Nachwuchsleute müssen ins Ausland gehen. Das ist schade, denn trotz ihrer kleinen Größe gehört unsere Sport-Uni in ihrem Fach zu den weltbesten und hat riesiges Potential.

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Fragen zu Sport, Gesundheit und Körper. Was interessiert Sie hierbei besonders?

In den letzten Jahren habe ich vor allem zwei Felder beackert: auf der einen Seite die Altersforschung, auf der anderen die Spitzensportforschung. Bei Spitzenathleten haben wir uns angeschaut, wie sich systemische Sozialisationsprozesse auf ihren Umgang mit Gesundheit auswirken. Im Bereich der Altersforschung haben wir uns gefragt, wie ältere Menschen sich und ihren Körper sehen. Wir haben beispielsweise Pflegeheime untersucht. Der Tagesablauf dort wird von außen gegeben, die Macht der Bewohner, den eigenen Alltag selbst zu gestalten, ist deutlich reduziert. Bewegung und körperliche Aktivität kommen kaum vor.

Haben Sie aus dieser Forschung über die Pflegeheime auch konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet?

Ja, wir haben uns gefragt, wie man hier körperliche Aktivität in den Alltag hineinbringen kann. Sport, körperliche Aktivität und Gesundheit hängen sehr eng zusammen. Es gibt meines Erachtens kein kostengünstigeres und effizienteres Mittel als körperliche Aktivität, sowohl mit Blick auf chronisch degenerative Erkrankungen, die sich im Alter häufig zeigen, als auch in Bezug auf die psychische Gesundheit. Das ist so gut empirisch erforscht, dass man sich fragt, warum nicht überall in Städten Bewegungsgelegenheiten für ganz junge bis ganz alte Menschen aufgebaut werden.

In einer alternden Gesellschaft müssen wir Bewegungsförderung besser in die Stadt integrieren, um alle Menschen, nicht nur die sportaffinen, zu erreichen.
Ansgar Thiel, neuer Rektor der „Spoho“ Köln

Wie blicken Sie auf das öffentliche Sportangebot in der Stadt Köln? Wo besteht Entwicklungsbedarf?

Ich war gestern auf dem Uni-Center im 32. Stock und habe mich umgeschaut. Es gibt schon viele Grünflächen in der Stadt. Und Köln hat ein sehr gutes Sportangebot. Trotzdem muss man die Stadtentwicklung weiterdenken. In einer alternden Gesellschaft müssen wir Bewegungsförderung besser in die Stadt integrieren, um alle Menschen, nicht nur die sportaffinen, zu erreichen. 

In Tübingen hatten wir mit Studierenden die Idee einer bewegten Bushaltestelle entwickelt. Sitze sollten beweglich sein, damit man Rumpf- und Beinkräftigungsübungen machen kann, es sollten Vorrichtungen installiert werden, um Klimmzüge oder Dehnübungen zu machen oder Schilder aufgestellt werden, die darauf hinweisen, wie weit der Fußweg zur nächsten Bushaltestelle ist. Es gibt viele Ideen, wie eine „bewegte“ Stadt aussehen könnte. Man muss sie halt umsetzen.

Ehemalige Studierende kritisieren die veralteten Räume der „Spoho“. Oder sagen, dass sie – obwohl der Ruf so gut ist – enttäuscht von der Lehre im Master waren. Wie kann sich die „Spoho“ als moderne Uni behaupten?

Hier wird aktuell überall gebaut und modernisiert. Das stört viele, die jetzt studieren. Aber für mich sind Baustellen toll. Das heißt, dass etwas gemacht wird. Universitäten sind in Deutschland nicht unbedingt das Lieblingskind der Politik. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei den Investitionen in Universitäten eher im unteren Mittelfeld. Und das sieht man dann an den Gebäuden, aber auch an der Lehre. Und die geringe Anzahl an Professuren und akademischen Ratsstellen wirkt sich gerade in den Masterstudiengängen natürlich auf Breite und Tiefe der Lehrangebote aus. Aber wir versuchen hier kontinuierlich zu optimieren, und das macht sich auch bemerkbar. Ich höre von vielen Bachelor- und Master-Studierenden, wie klasse sie das Studium an der Deutschen Sporthochschule finden.

Wie kann man die Lehre dennoch weiter entwickeln?

In den nächsten Jahren wollen wir die Lehre mehr internationalisieren. Wir sind jetzt Teil eines „Global Sports University Network“ mit zehn anderen Universitäten, zum Beispiel der University of British Columbia oder dem MIT – also absoluten Top-Universitäten. Diese Netzwerke ermöglichen uns, sowohl Verbindungen in der Forschung herzustellen als auch gemeinsame Studienangebote auf den Weg zu bringen.

Der Drang zur Selbstoptimierung in der Gesellschaft wird immer präsenter. Social Media beeinflusst unsere Körperbilder, Gesundheitsratgeber liegen zuhauf in den Buchhandlungen. Wie verändert das die Rolle eines Sportwissenschaftlers?

Die gesellschaftliche Tendenz zur Selbstoptimierung schafft einen großen Markt, insbesondere im Breiten- und Gesundheitssport. Auf Youtube, Facebook etc. werden unzählige Trainings- und Ernährungsempfehlungen gegeben, was nicht selten aber Pseudo-Wissenschaft ist. Damit müssen wir uns als Sportwissenschaft auseinandersetzen. Unsere Aufgabe als Sport-Universität ist zu erforschen, wie möglichst alle Menschen von den positiven Effekten von Sport und Bewegung profitieren können. Aber auch die Politik muss Verantwortung übernehmen, um zu sichern, dass seriöse Forschungsinstitutionen gut funktionieren und anerkannt werden.


Zur Person und zur Hochschule: Ansgar Thiel kommt gebürtig aus dem baden-württembergischen Laupheim. Er ist 1963 geboren. Nach Abschluss seines Studiums der Sportwissenschaft, Psychologie und Psychogerontologie in Tübingen und Erlangen-Nürnberg begann Thiel seine wissenschaftliche Karriere am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bielefeld, wo er 1996 seine Promotion und 2000 seine Habilitation abschloss.

2004 übernahm er eine Professur für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen, wo er zwölf Jahre Direktor des Instituts für Sportwissenschaft war. Von 2022 bis Mai 2024 war er hauptamtlicher Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Seit 20. Mai ist er Rektor Deutschen Sporthochschule Köln. Thiel ist verheiratet und hat drei Kinder.

Die Deutsche Sporthochschule Köln ist die einzige deutsche Sportuniversität. Es sind rund 6000 Studierende eingeschrieben. (gam)