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VeedelsspaziergangPolitikerin Lale Akgün zeigt ihre Lieblingsplätze in Braunsfeld

Lesezeit 6 Minuten
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Der kleine Platz in Lale Akgüns Wohnsiedlung ist ein beliebter Treffpunkt der Nachbarschaft.

  1. Lale Akgün wohnt seit 30 Jahren in Braunsfeld.
  2. Einkäufe erledigt sie am liebsten direkt vor der Haustür.

Braunsfeld

„Wir haben hier so einen kleinen Dorfplatz mit einem Brunnen und Sitzbänken. Das Veedel im Veedel. Wir feiern zusammen. Im Sommer wird gegrillt, Weihnachten gibt’s Glühwein. Denn ein gut funktionierendes Netzwerk ist nicht nur in der Politik wichtig“, sagt Lale Akgün, und sie muss es wissen, schließlich war sie sieben Jahre für die SPD als Bundestagsabgeordnete in Berlin. Seit 30 Jahren wohnt sie in Braunsfeld, mit Ehemann und Tochter hat sie hier Wurzeln geschlagen.

An der Ecke zur Scheidtweilerstraße wird kräftig gebaut. Der Investor wirbt mit dem Slogan „Verliebt in mein Veedel.“ Die meisten Wohnungen sind wohl schon verkauft. Der Quadratmeter kostet in Braunsfeld zwischen 2.500 und 4.000 Euro. „Der Kölner Westen – und der fängt ja in Braunsfeld an – ist teuer, aber dies ist ein lebenswerter Stadtteil mit vielen Qualitäten“, sagt die Genossin Akgün zu Beginn des Spaziergangs – und öffnet die Tür zu einer Änderungsschneiderei.

Laden im Niemandsland

Der Laden von Racid Hassoun ist sehr klein, liegt irgendwie im Niemandsland am Rande eines Parkplatzes und sieht aus wie ein Pförtnerhäuschen. Aber anscheinend ist der Standort strategisch günstig, denn der Laden existiert schon seit mehr als 15 Jahren an dieser Stelle.

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Maßschneider Racid Hassoun aus Syrien lebt seit 15 Jahren in Köln.

Die Begrüßung ist herzlich, man spürt, dass die Chemie zwischen Racid Hassoun und Lale Akgün stimmt. Der Mann kommt aus Damaskus und hat in Aleppo Maßschneider gelernt. Leider würden die Deutschen nur selten Kleider anfertigen lassen, erzählt er. Deshalb kürzt er jetzt schon seit 15 Jahren die Hosen, Ärmel oder Röcke der Braunsfelder.

„Am Anfang war es für mich ziemlich schwer, Fuß zu fassen, es gab – anders als heute – wenig Unterstützung für Flüchtlinge, dafür aber viele Vorbehalte, noch mehr als heute. Aber ich habe es geschafft, Köln ist für mich wie eine zweite Heimat.“ Der Schneider und die Politikerin unterhalten sich selten über die Länge der Hosen oder Ärmel, meistens geht es um Politik, seit Jahren beobachten sie besorgt die Entwicklung in Syrien. Über die aktuelle Situation wundern sie sich nicht.

Lesen Sie mehr über Lale Akgüns Leidenschaft für Bücher im nächsten Abschnitt.

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Lesestoff gibt’s bei Buchhändlerin Gabriele Klinski (l.)

Auf dem Weg zum Schuster erzählt Akgün, dass sie nichts gegen Multi-Kulti habe, man dürfe aber die Differenzen nicht zelebrieren. „Wir akzeptieren Unterschiede, wir sind ja nicht in Nordkorea, aber wir müssen auch Gemeinsamkeiten haben“, betont die Politikerin, die als Neunjährige aus der Türkei nach Deutschland kam.

„Wenn Integration erfolgreich sein soll, darf es nicht nur um Kindergärten und Sprachkurse gehen. Das sind lediglich Instrumente der Integration. Die Basis ist eine gemeinsame Identität. Die Menschen, die zu uns kommen, müssen bereit sein, unseren Rechtsstaat, unser Lebensgefühl und auch die ungeschriebenen Gesetze zu akzeptieren. Wenn man den Leuten eine Perspektive bietet, muss man eine Gegenleistung erwarten können.“

Lale Akgün drückt die Fußgängerampel an der Aachener Straße. Diese vier-, manchmal gar sechsspurige Straße wirkt wie eine Schneise im Veedel. Der Verkehr rollt unablässig, Busse, Lastwagen, Autos, Fahrräder und mittendrin die Straßenbahnschienen. „Mit der KVB bin ich überhaupt nicht zufrieden, die Linie 1 fährt abends alle 15 Minuten, wie Opas Bimmelbahn. Das ist ja lächerlich für eine Millionenstadt.“

Silberne Hochzeit

Man braucht Geduld, um die Straßenseite zu wechseln, die grünen Ampelphasen sind kurz, doch nach gefühlten zehn Minuten erreichen wir endlich den Schuster der Familie Akgün. Er heißt Dirk Pütz und ist – ähnlich wie der Handwerker aus Syrien – auf Reparaturen spezialisiert, obwohl er gelernter Schuhmachermeister ist. „Lale und ich haben in zwei Jahren Silberne Hochzeit“, sagt er lachend. Und erwähnt nicht ohne Stolz, dass er schon einen abgebrochenen Absatz von Tina Turner repariert hat. Sie sei zwar nicht selbst im Laden gewesen, aber immerhin habe sie im Auto gesessen und gewunken.

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Das Geschäft von Schuhmachermeister Dirk Pütz

Lale Akgün ist nicht nur Politikerin, sie ist auch Schriftstellerin. „Frau Akgün hat bei mir ihre Bücher vorgestellt und mir mit ihrer Popularität die Tür in die Braunsfelder Herzen geöffnet“, sagt bei der nächsten Station gleich Buchhändlerin Gabriele Klinski, die vor zehn Jahren mit ihrem Geschäft an der Aachener Straße den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hat. Die Braunsfelder seien bei Fremden zunächst zurückhaltend, distanziert und beobachtend. Wenn sie sich aber entschieden hätten, jemanden in ihr Veedel aufzunehmen, dann begegneten sie dem Neuen mit Interesse und Aufmerksamkeit. „Die Menschen hier sind belesen, Kultur ist ein Thema, es gibt viele Lesezirkel. Und sie suchen das persönliche Gespräch, die Beratung. Lesen gehört in Braunsfeld zum Lebensgefühl.“

Lesen Sie mehr über Lale Akgüns Rezept für gute Laune im nächsten Abschnitt.

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Die Mohren-Apotheke

Lale Akgün ist keine Kneipen- oder Restaurantgängerin, zumindest nicht im Veedel. Ihr Mann sei eh sehr, sehr sparsam und koche lieber zu Hause. Was ihr aber im Veedel fehlt, sind kulturelle Angebote und ein Kino. Auf das Angebot an Lesestoff jedoch kann sie sich verlassen. Und weil sie die familiäre Atmosphäre zwischen den Bücherregalen so genießt, vergisst Akgün schon mal die Zeit. Das soll schon was heißen bei einer Frau, die immer unterwegs ist.

Seit sie 2009 ihr Bundestagsmandat an den CDU-Mann Michael Paul verloren hat, arbeitet die Sozialdemokratin wieder – wie schon vor der Berliner Zeit – für die NRW-Landesregierung, in der Staatskanzlei. Zudem ist sie gefragter Gast bei Podiumsdiskussionen, als Expertin in Sachen Islam. Sie ist selbst Muslimin und kämpft dafür, dass der Islam nicht mit Extremismus gleichgesetzt wird. Man dürfe die Interpretation des Koran nicht den Extremisten und auch nicht den türkischen Verbänden überlassen, weil diese ein mittelalterlich geprägtes Weltbild verträten.

Rezepte gegen alle Wehwehchen

Der Islam müsse den Knoten durchschlagen und sich endlich als Glaubensgemeinschaft definieren und nicht als Staatsform. „Der Rechtsstaat muss über der Religion stehen, diese Reform ist dringend. Ich bin in den letzten Jahren von den Islamisten so viel angepöbelt worden, habe mir so viel Dreck anhören müssen, aber davon lasse ich mich nicht einschüchtern. Ich weiß, wessen Geistes Kinder die sind.“

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Lale Akgün im Gespräch mit Apothekerin Susanne Bayer (r.)

Die Frau mit den kurzen roten Haaren redet energisch über all die Dinge, die ihr nicht gefallen. Vor allem aber verbreitet sie überall gute Laune. Egal in welches Geschäft sie hineingeht, man kennt sie. Die Apothekerin Susanne Bayer hat nicht nur Rezepte für alle Wehwehchen, sondern auch für die Seele: „Meine Devise ist: Wenn die Leute von den Ärzten kommen und die Diagnose sie aus der Bahn wirft, dann bemühe ich mich, dass meine Kunden immer mit einem Lächeln wieder herausgehen.“ Seit 21 Jahren ist sie in Braunsfeld und die Akgüns gehören zu ihren Stammkunden. „Wenn wir eine Diagnose haben oder einen Spezialisten brauchen, dann fragen wir Frau Bayer. Wir reden aber auch über Klamotten oder den besten Blumenladen.“

Der ist natürlich im Veedel. Als er vor vier Jahren eröffnet wurde, war Akgün eine der ersten Kundinnen. Besitzerin Christine Stang-Protz erinnert sich genau, weil der Blumenstrauß für einen Generalkonsul war und entsprechend üppig sein musste. Ansonsten ist das Angebot übersichtlich, aber geschmackvoll und gut sortiert. Das Besondere sind Sträuße in drei Preisklassen: der große Strauß des Tages, der mittlere, bunte Strauß und das kleine Kaffee-Sträußchen unter fünf Euro. „Braunsfeld mit seinen Menschen und Lebensgeschichten ist für mich ein Ort des Vertrauens, ich würde hier nicht wegziehen. Wenn ich aus der Straßenbahn aussteige oder mit dem Auto über die Aachener hierher fahre, bin ich angekommen, angekommen zu Hause.“