Zollstock – Die zentrale Frage ist immer die nach dem Namen. Doch die ist schnell geklärt: „Hier war ja früher nichts außer Wiesen und Feldern“, sagt Ulrich Soénius, „und einer Zollstation. Deswegen: Zollstock.“ Zollstock, das klingt bodenständig, nach Handarbeit, wenig mondän jedenfalls. „Hip ist es hier nicht – und das wird es auch nie werden“, glaubt der 50-Jährige, der in Zollstock aufgewachsen ist, im Alter von neun Jahren mit der Familie nach Marienburg zog, als Student zurückkam – und seitdem nie wieder weg wollte. Soénius ist Geschäftsführer bei der Industrie- und Handelskammer zu Köln, Direktor des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs, Stiftungsexperte und Zollstocker mit Leib und Seele. Schon wegen der Lage: „Der Stadtteil liegt mitten im Grünen“, sagt Soénius. Das stimmt vor allem dort, wo der Südfriedhof das Viertel abschließt, nämlich ganz im Süden. Der entstand 1901 als Entlastung für den Melatenfriedhof und ist, das weiß Soénius, mehr als nur ein Friedhof. „Das ist wie ein Park für den Stadtteil, hier gehen die Leute spazieren. Sonntags trifft man hier halb Zollstock.“
Ein Spaziergang, bei dem man eben auch mal bei den Verstorbenen der Familie vorbeischaut. „Hier liegen meine Großeltern“, sagt Ulrich Soénius, „die Eltern meiner Mutter hatten einen Friseursalon auf dem Höninger Weg.“ Zwei Ecken weiter das Grab von Franz Kremer, legendärer FC-Boss und Mitbegründer der Fussball-Bundesliga. Englische und italienische Soldaten haben ihre eigenen Ehrenfriedhöfe, insgesamt ruhen mehrere tausend Soldaten, aber auch zivile Kriegsopfer auf dem Südfriedhof. Der ist, so Soénius, „bis heute der größte Friedhof in Köln“.
Der Haupteingang liegt am Höninger Platz, direkt nebenan gibt es – wenig überraschend – einen Blumenladen. Aber nicht irgendeinen. „Seit 100 Jahren gibt es Blumen Kurpan“, sagt Stammkunde Soénius, der sich regelmäßig von Inhaberin Birgit Dircks-Menten beraten lässt. Mit dem zweiten Traditionsgeschäft am Höninger Platz schloss man sich unlängst zusammen und firmiert nun als „Kurpan Zimmer“.
Endstation der Linie 12
Vor der Tür beginnt und endet seit mehr als 100 Jahren die zentrale Ader des Stadtteils – die Straßenbahn in die Innenstadt, seit vielen Jahren fährt hier die Linie 12. Das täte sie möglicherweise bis heute nicht, wenn die Zollstocker, die die Straßenbahn unbedingt in ihrem Viertel haben wollten, nicht aktiv geworden wären. „Die haben den Bau einfach selbst finanziert“, erklärt Soénius. Früher drehte die Bahn an der Endstation stets eine Schleife, bevor es wieder zurück- ging in die Stadt. Heute gibt es einen schlichten Bahnsteig, an dem die Bahnen stoppen und die Fahrer einfach den Führerstand wechseln. Tief unter dem Platz suchten die Zollstocker im Zweiten Weltkrieg im öffentlichen Bunker Schutz vor den Bomben. „Meine Mutter auch“, so der studierte Historiker.
Über der Erde findet sich seit 1949 das Eiscafé Van der Put – seitdem Ziel zahlloser Eisliebhaber aus Zollstock und von anderswo. Natürlich auch für Soénius eine allererste Adresse, aber: heute leider geschlossen. Also geht’s in Richtung Innenstadt, und zwar über den Höninger Weg, die Hauptachse des Stadtteils, die einmal diagonal durch Zollstock schneidet. Für Soénius ein Stück Familiengeschichte, vor allem das Haus mit der Nummer 375. „Hier ist meine Mutter geboren – wie das damals so war. Da ging man ja zur Geburt noch nicht ins Krankenhaus.“ Kennengelernt hatten sich seine Eltern bei den Pohlig-Werken ganz im Norden des Stadtteils. Das Maschinenbauunternehmen war bis zur Stilllegung 1988 der zentrale Arbeitgeber im Viertel, noch heute erinnert die Pohligstraße an die Firma, auch wenn sich anstelle des Traditionsunternehmens heute große Versicherungsunternehmen finden.
Einkaufen im Stehcafé
Vor dem „Stehcafé bei Margret“ stoppt Soénius und grüßt die anwesenden Damen. Das Stehcafé entpuppt sich als ausgewachsener Kiosk und somit als der nächste Laden für den IHK-Geschäftsführer, dessen Haus um die Ecke liegt. „Hier gehen wir oft einkaufen“, sagt Soénius. Genauso oft kommt er in den „Bazar am Höninger Weg“, ein Stück weiter nördlich gelegen und damit schon fast im eigentlichen Zentrum des Stadtteils rund um die Kreuzung am Gottesweg. Inhaber Zeki Bayirli und Verkäufer Özer Orhan eilen herbei, die Begrüßung ist herzlich, das Angebot im Inneren des Geschäfts groß: „Was darf es diesmal sein?“ Jeden Samstag sei er hier, sagt Soénius, „das Fleisch ist super, das Angebot riesengroß, die Qualität stimmt, vor allem das Lamm ist toll. Ach ja, und Ingwer brauche ich auch noch.“ Den trinke er als Tee gegen die Erkältung. Zurück auf dem Höninger Weg, direkt vor dem Geschäft stehen Fahrräder, sauber aufgereiht am Fahrradständer. Für Soénius ein Zeichen nachhaltiger und positiver Veränderung im Stadtteil. „Das hätte es vor 20 Jahren noch nicht gegeben. Hier fuhr jeder mit dem Auto, egal wohin, und wenn es nur um die nächste Ecke ging.“
Direkt gegenüber vom Bazar hat der Stadtteil, der architektonisch in weiten Teilen geprägt ist durch seine Genossenschaftssiedlungen aus dem frühen 20. Jahrhundert, augenfällig noch Entwicklungspotenzial. Soénius weiß, warum: „Früher gab es hier große Kiesgruben. Nach dem Krieg wurden die zugeschüttet. Darauf konnten aber keine großen Häuser gebaut werden. Also entstanden hier vor allem kleine Unternehmen in überschaubaren Gebäuden.“ So ist es bis heute geblieben, auch wenn keine 100 Meter weiter das Epizentrum des Zollstocker Geschäftslebens liegt.
Die Tradition lebt im Veedel
Alles hat Tradition: Die Filiale der Sparkasse („Ein Treffpunkt für die Zollstocker“) genauso wie der Friseursalon von Jakob Kamm („Seit ich ein Kind bin, gehe ich hierhin“) und die Bäckerei Schmitz-Nittenwilm („Über 30 Filialen in ganz Köln, aber hier steht die Backstube. Eine echte Kölner Erfolgsgeschichte“). In Zentral-Zollstock brummt es jedenfalls an einem ganz normalen Werktagsmittag. Nur der Wochenmarkt könnte etwas größer ausfallen, findet auch Ulrich Soénius. „Das sind hier nur noch fünf Stände.“
Nein: Hip ist es nicht, auch nicht im „Höninger“. Doch das gemütliche Kneipenrestaurant ist seit vielen Jahren eine etablierte Größe im Viertel. Soénius weiß, warum: „Hier treffen sich Studenten, hierhin kommen die Angestellten aus den Versicherungen, hier gehen aber auch die alteingesessenen Zollstocker hin.“
Auf dem Rückweg in Richtung Süden bleibt Soénius vor einem kleinen Schaufenster stehen. „Das war mal ein Schuhmacher“, erzählt er. Seit Ende 2010 residiert hier die Galerie Display. „Das ist Kölns kleinste Galerie“, ist sich Soénius sicher. Galerist Andreas Böll sorgt für ein ambitioniertes Programm in der Ein-Raum-Galerie. „Das Publikum steht bei jeder Vernissage mit Kölsch auf der Straße.“ Vom Schuster zur Kunst – ein Wandel, der Soénius gefällt. „Es gibt jetzt ganz viel Kultur hier, das wäre vor 30 Jahren völlig undenkbar gewesen.“
Eher bodenständige Menschen
Rund 23 000 Menschen leben in Zollstock, viele davon schon sehr lange. Wechsel gibt es wenig, Gentrifizierung ist hier ein weitgehend unbekanntes Phänomen, auf der Liste der angesagtesten Kölner Viertel nimmt Zollstock einen hinteren Platz ein – wenn überhaupt. „Die Zollstocker sind eben eher bodenständig. “ Manche Veränderung braucht deswegen aber auch ihre Zeit, weiß Soénius. „Nicht jeder Hausbesitzer sieht ein, dass er auch mal renovieren muss.“ Ist das aber irgendwann passiert, „dann sieht man das sofort. Und so wird es Stück für Stück noch schöner in Zollstock.“